Ben Wallace strahlt mit der Sonne um die Wette. Der tagelange Regen an der schottischen Küste hat sich in der Nacht verzogen. Kräftiger Ostwind fegte am frühen Morgen die letzten Wolken vom Himmel. Mit einem beherzten Satz springt der Mittsechziger auf das rostige Deck des alten Kutters. „Dann mal los!“, ruft er seinem Kapitän John zu. Die betagte Vital Spark hustet Rauch aus dem Schornstein und tuckert langsam aus dem Hafen von Stranraer.

Ben und John sind auf dem Weg zu den Fischgründen der Familie Wallace. Sie gehören zu den letzten Fischern, die auf die wilde europäische Auster gehen.„Natürliche Austernbänke wie hier gab es früher an der ganzen Nord- und Ostsee“, sagt Ben, „mittlerweile sind fast alle verschwunden“.

Grund dafür war eine extensive Ausbeutung der Riffe Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. „Die Fischer waren zu gierig, pflügten mit ihren großen Trawlern das ganze Jahr über die Austernbänke, bis keine mehr da waren.“ Erst dann ging man zur Zucht mit Drahtgestellen in Küstennähe über, wie sie heute üblich ist – und ersetzte dabei fast überall die europäische durch die pazifische Auster, die schneller wächst und größer wird.

Nicht so im Loch Ryan: „1701 verlieh König William von Oranien meinen Urahnen per Dekret das alleinige Recht zur Ausbeutung der Austernvorkommen“, erzählt Ben stolz. Seitdem fischt die Familie hier ununterbrochen – und zwar nachhaltig.

„Die Saison dauert nur von September bis April. Während der sommerlichen Brutzeit herrscht Fangverbot.“ Zudem würden immer nur ausgesuchte Bereiche befischt, sodass sich die anderen Abschnitte erholen könnten.

Es wird hektisch an Bord

Und auch die Fangmenge wird begrenzt: „Wir fischen maximal fünf Prozent ab“, erzählt Ben, „behalten nur die großen, erwachsenen Austern mit einem Gewicht von 80 bis 120 Gramm.“ Die meisten verkauft Ben an die Sterne-Restaurants in London, ein kleiner Teil wird vor Ort angeboten – in „Henrys Bay House Restaurant“ und auf dem alljährlichen Austernfestival im September.

Nach einer Dreiviertelstunde wird es hektisch an Bord. John drosselt den Motor, eilt zum Bug und löst das eiserne Schleppnetz, das krachend in die Tiefe fällt. Ben steht am Steuerrad und manövriert den zehn Meter langen Kahn über die See, den Blick immer auf den Detektor gerichtet. „Die roten Punkte, das sind die Austernbänke“, erklärt er.

Nach einigen Minuten hievt der Kran ächzend das Stahlnetz wieder nach oben – prall gefüllt mit Muscheln. John und sein Sohn Derrick sortieren sie nach Größe und füllen orangefarbene Plastikkörbe mit ihnen. Das Schauspiel wiederholt sich noch viermal, dann sind zwei Dutzend Körbe voll, das Tagessoll ist erfüllt.

Auf dem Weg zurück in den Hafen kippen John und Derrick den Inhalt von 20 der 24 Körbe wieder ins Wasser. „Wir geben die kleineren Austern wieder zurück in ihren natürlichen Lebensraum“, erklärt Ben, wo sie sich schnell wieder ansiedeln.

Dank dieser über die Jahrhunderte bewährten nachhaltigen Fischerei beherbergt Loch Ryan heute das größte natürliche Vorkommen der europäischen Auster. Experten wie Professor Bill Sanderson von der Heriot-Watt-Universität in Edinburgh schätzen die Zahl auf rund 23 Millionen – und preisen deren ökologische Bedeutung: „Einheimische Austern sind die Superhelden des Meeres“, so der Biologe, „sie reinigen das Wasser, indem sie es filtern, sie speichern Kohlenstoff, und ihre Bänke sind – ähnlich wie Riffe – Lebensraum für eine Vielzahl anderer Meeresbewohner.“

Neue Identität durch Austernfestival

Auch deshalb gibt es in ganz Schottland Versuche, die europäische Auster wieder heimisch zu machen – und die Vorkommen in Loch Ryan spielen hierbei eine wichtige Rolle. So wurden Ende des Jahres 10.000 Exemplare aus Loch Ryan im Rahmen eines Wiederansiedlungsprogramms in den Firth of Forth, Schottlands größten Fjord an der Ostküste, gebracht.

Ein ähnliches Projekt läuft seit 2017 am Dornoch Firth, 125 Kilometer weiter nördlich. Hier hofft man, bis 2030 die Zahl der Austern auf vier Millionen heben zu können. „Das ist in etwa die Menge, die es braucht, damit sich die Population selbst erhalten kann“, sagt Sanderson.

Eine bedeutende Rolle sollen die kleinen, flachen Weichtiere nach Meinung von Allana Hardie in Zukunft auch für Stranraer selbst spielen. „Unsere Gemeinde hat in der Vergangenheit wirtschaftlich einige Rückschläge erlitten“, sagt die Eventmanagerin. Vor allem das Ende der Fährverbindung nach Nordirland vor 13 Jahren sei ein Schock gewesen.

Mit einem alljährlich zum Saisonbeginn veranstalteten Austernfestival wolle man zahlungskräftige Touristen anlocken und dem Ort eine neue Identität geben: „150 Jahre war der Name der Gemeinde mit dem Fährverkehr verbunden. Wir wollen, dass die Leute sagen: Stranraer, das ist dort, wo die Austern herkommen.“

Das Event findet 2025 bereits zum achten Mal statt – und ist ein voller Erfolg. „Letztes Jahr kamen mehr als 20.000 Besucher und ließen rund zwei Millionen Pfund in den Kassen der Händler, Hoteliers und Restaurants“, freut sich die 28-Jährige. „Auch die BBC war hier, hat gefilmt und das Austernfestival landesweit bekannt gemacht.“

Dennoch habe die Veranstaltung noch immer Dorffestcharakter. Jeder macht mit: Schulen und Sportvereine, die örtliche Feuerwehr, lokale Kunsthandwerker. Whisky-Brennereien aus der Umgebung sowie eine Handarbeitsgruppe, die Selbstgestricktes anbietet.

Schottische Meisterschaft im Austernöffnen

Im Mittelpunkt steht natürlich die Auster von Loch Ryan. So wird während des dreitägigen Festivals die Schottische Meisterschaft im Austernöffnen ausgetragen. Der Gewinner darf an der Weltmeisterschaft im irischen Galway teilnehmen. Meeresbiologen, auch Bill Sanderson, halten Vorträge über die Bedeutung der Austernbänke für das Ökosystem im Meer.

Und natürlich können die Austern aus Loch Ryan hier auch verkostet werden: Rund 2000 sind es vergangenes Jahr gewesen. Ben mag sie am liebsten pur mit einem Spritzer Zitrone: „So kommt ihre fleischig-feste Konsistenz, ihr leicht nussiger Geschmack am besten zur Geltung.“

Besonderes Gedränge herrscht immer bei Nick und Erin Bullard. Die beiden Youngster im Whisky-Geschäft haben in ihrer 2021 gegründeten Brennerei in Moffat den Oyster Festival Whisky kreiert: „Ein schmackhafter Begleiter zu den Delikatessen des Meeres“, findet Nick, „rauchig-fruchtig im Gaumen, ein wärmender Abgang mit Noten von Zimt, Tabak und Aprikose.“

Der Festival-Scotch ist der Renner und wirklich etwas Besonderes: „Wir sind eine von nur zwei Destillerien weltweit, die wieder mit Holz brennen“, sagt Nick und lädt zu einer Besichtigung nach Moffat ein, eine gute Autostunde von Stranraer entfernt. „Vor über 200 Jahren wurde Holz durch Kohle, später Gas und Strom ersetzt.“ Das sei zwar effizienter gewesen, der Whisky verlor so aber auch an Aromen. Weil Holz heißer brenne als Gas, karamellisiere ein Teil des Zuckers, bevor es zur Fermentierung kommt. „Das gibt unserem Whisky mehr Würze“, ist sich der Brennmeister sicher.

Touristisch ist das Austernfest ein Leuchtturmprojekt. Die Region hat aber mehr zu bieten. Am bekanntesten sind sicher die Galloway-Rinder, die ihren Namen vom Council Dumfries and Galloway haben, zu dem Stranraer gehört. Die gemütlichen Wiederkäuer mit der Hippiefrisur und den langen Hörnern sind wegen ihrer Robustheit, dem sanften Wesen und ihrem schmackhaften Fleisch ein echter Exportschlager, der nicht nur in den windigen Lowlands das ganze Jahr im Freien weidet, sondern immer öfter auch im Fränkischen, in der Rhön oder im Taunus anzutreffen ist.

Dann ist da die wilde Küstenlandschaft, die für Schottland so typisch ist. Man entdeckt sie am besten auf dem Rhins of Galloway Coast Path. Der rund 133 Kilometer lange Rundweg startet in Stranraer und führt zum Mull of Galloway, Schottlands südlichstem Punkt. An dessen Spitze ragt der 1830 errichtete Leuchtturm 26 Meter in die Höhe – und gibt Blicke frei auf die Isle of Man und bei gutem Wetter bis nach Irland.

Flora aus aller Welt

Zwischen Mull of Galloway und Portpatrick liegt etwas abseits vom Pfad der Logan Garden von 1899. Besucher können sich hier an rund 2500 Pflanzenarten aus aller Welt erfreuen, von denen 120 vom Aussterben bedroht sind. Pflanzenschätze aus Süd- und Mittelamerika, dem südlichen Afrika und Australien sowie Asien sind zu entdecken: eine bedeutende Sammlung von Baumfarnen und Rhododendren; gigantische Gunnera – mit Blättern, die bis zu zwei Meter Durchmesser haben.

Weiter geht es zum beschaulichen Portpatrick. Das einstige Fischerdorf ist mittlerweile ein touristischer Hotspot mit Grandhotel, mehreren Restaurants, Pubs und einer kleinen Marina. Grasland und Heide mit einer Unzahl von Wildblumen wie Strandflieder, Purpurwicke und Seemilzkraut begleiten die Wanderer auf dem Weg dorthin.

Mehr als 700 verschiedene Algenarten teilen sich das saubere Wasser in den Prielen und Meeresbecken. Nicht wenige davon sind essbar und werden in Restaurants in Edinburgh oder London als Delikatessen verarbeitet.

An den steilen Klippen, in den Höhlen und unzugänglichen Felsen in der Brandung nisten Basstölpel, Tordalken oder Sturmtaucher – und natürlich der Austernfischer mit seinen unverwechselbaren langen roten Beinen und Schnabel. Diese Vogelart weiß eben auch, was gut ist.

Tipps und Informationen:

Anreise: Direktflüge nach Glasgow gibt es von Berlin (Easyjet) und Frankfurt (Lufthansa); Umsteigeflüge zum Beispiel mit British Airways via London. Weiter nach Stranraer geht es per Mietwagen.

Tipps für Genießer: 2025 findet das Stranraer Oyster Festival vom 12. bis 14. September statt (stranraeroysterfestival.com). Regelmäßige Führungen mit Whisky-Verkostungen bieten unter anderem die Moffat Distillery (moffatdistillery.com) und die Bladnoch Distillery (bladnoch.com) an.

Unterkunft: Das in Stranraer 1905 eröffnete „Portpatrick Hotel“ ist eingerichtet im typisch britischen Stil – mit Restaurant, Bar und Billardzimmer. Doppelzimmer ab 94 Euro (portpatrickhotel.co.uk). Fünf Gehminuten von Stranraers Stadtzentrum entfernt liegt die familiengeführte Pension „Lakeview Guest House“ – mit schottischem Frühstück und Blick auf den See. Doppelzimmer ab 89 Euro (lakeviewguesthouse.co.uk).

Wo isst man gut? Vor Ort gibt es die lokalen Austern von September bis April nur in „Henrys Bay House Restaurant“ (henrysbayhouse.co.uk). Regionale Seafood-Gerichte sind die Spezialität im „Crown“ in Portpatrick – schöne Lage am Hafen (crownhotelportpatrick.com). Kreative, leichte Küche in Wohnzimmeratmosphäre bietet das „Brodies of Moffat“ (brodiesofmoffat.co.uk).

Auskunft: visitscotland.com

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Visit Scotland. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit

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