Am Theaterplatz ist die Welt noch in Ordnung. Hier kann man am besten sehen, was diese drittgrößte Stadt Sachsens, die zugleich die drittgrößte Stadt Ostdeutschlands überhaupt ist, einmal ausgemacht hat: Großzügigkeit, Bürgerstolz, Sinn für das Repräsentative bei gleichzeitiger Offenheit für die Künste und das Zukunftsweisende. Erfreulicherweise wird all das in Chemnitz inzwischen wieder geschätzt.

Wie die Dreiflügelanlage eines Schlosses nebst Schlosskirche prangt in der Mitte des Theaterplatzes das wuchtige Opernhaus. Links davon das nicht minder prachtvolle Museum der Schönen Künste. Beide sind, wie auch die Kirche St. Petri, gehalten im historistischen Monumentalstil des späten Kaiserreichs. Aber es gibt einen interessanten Bruch: Den etwas nach vorn versetzten rechten Flügel bildet ein eleganter Flachbau der frühen 1930er-Jahre: das Vier-Sterne-Hotel „Chemnitzer Hof“ – kühl, funktional, modern.

Ansonsten ist viel von der Chemnitzer Altstadt im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Aber noch immer sprechen, trotz der dominierenden DDR-Plattenbauten, die breiten Boulevards vom Willen zur großen Form, die man in diesen Dimensionen weder in der Residenzstadt Dresden noch im wuseligen Leipzig findet.

Manchmal unwirklich

Chemnitz, das sich nicht von ungefähr lange als Stadt der Moderne vermarktet hat, erinnert mit seinen breiten Magistralen oft an eine der futuristischen Megastädte, die am Reißbrett entworfen worden sind. Da hier kaum mehr als 250.000 Menschen leben, hat das manchmal etwas Unwirkliches, vor allem abends oder nachts, wenn so gut wie niemand unterwegs ist.

Dieses Gefühl stellt sich auch auf dem gigantischen Platz vor dem Alten und Neuen Rathaus ein, der schlicht Markt heißt: Fast glaubt man, auf der rund 100 Meter langen, bis 60 Meter breiten Freifläche werde demnächst ein Ufo landen; Platz genug gäbe es.

Es überwiegt das erwähnte Plattenbau-Wohnmaschinen-Szenario, unterbrochen bisweilen durch „weiße Elefanten“ aus der alten Zeit, ein prächtiges Bankgebäude oder Warenhaus, die einem beruhigend klarmachen: Doch, doch, das ist hier alles für Menschen gemacht, nicht für Aliens oder für die Lebewesen, die nach dem nächsten Weltuntergang auf dieser Erde siedeln werden.

Mit anderen Worten: Chemnitz ist anders. Chemnitz ist gewöhnungsbedürftig. Keine Liebe auf den ersten Blick. Deshalb waren nicht wenige Zeitgenossen erstaunt, als die Nachricht kam, Chemnitz werde Kulturhauptstadt Europas 2025. Was? Nicht das geschichtsträchtige Nürnberg, nicht Hannover, die gepflegte Hauptstadt des Mittelmaßes? Beide hatten sich auch beworben.

Immense Schätze der Kunstsammlungen

Nein, es wurde der ehemalige Industriestandort Chemnitz, der zu DDR-Zeiten nach jenem Utopisten hieß, der die Blaupause für die zweite Diktatur auf deutschem Boden lieferte: Karl Marx. Sein megalomaner Kopf, der „Nischel“, prangt noch immer in seiner ganzen 13 Meter hohen Scheußlichkeit im Zentrum.

Hat Chemnitz den Rang „Kulturhauptstadt“ also überhaupt verdient? Die Antwort ist ein klares Ja. Nicht nur, weil es mit dem sechs Museen umfassenden Verbund der Kunstsammlungen seit dem 19. Jahrhundert über immense Schätze verfügt. Nicht nur, weil hier der Stararchitekt des Jugendstils, Henry van de Velde, mehrere seiner fantastischen Bauten ausführen konnte – am eindrucksvollsten mit der Villa Esche.

Das ist ein ikonisches Privatdomizil, in seinem Rang Mies van der Rohes berühmter Villa Tugendhat in Brünn vergleichbar. Die Villa Esche beherbergt ein Henry-van-de-Velde-Museum, aber auch den gastronomischen Hotspot der Stadt: das „Restaurant Villa Esche“, in dem man im Sommer im schönen Garten herrlich abgeschieden unter alten Bäumen tafeln kann.

Schließlich darf bei einer Aufzählung des Kulturbestands auch die vitale Kunst-, Theater- und Musikszene nicht vergessen werden. Seit der Wiedervereinigung hat sie erneut Anschluss an die große Zeit der Stadt gefunden.

Im Kulturstadtjahr zeigt sich, dass der Kulturbegriff hier ein weitgefasster ist, gegenwartsbezogen, Politik und Wirtschaft einbeziehend. Wer sich einen Begriff von Chemnitz als Produktionsstätte wichtiger technischer Errungenschaften machen will, sollte den „Tales of Transformation“ im Museum für Industrie oder dem Parcours „#3000Garagen“ mit einer Station im Museum für sächsische Fahrzeuge seine Aufmerksamkeit schenken.

Da kann man die ersten deutschen Rennwagen bestaunen oder elegante Zweisitzer aus den frühen 30ern mit ihren verspielten Accessoires. Was die Auto-Union damals auf den Markt brachte, hat schließlich auch Filmgeschichte geschrieben: Wenn Lilian Harvey in „Die Drei von der Tankstelle“ mit einem Lied auf den Lippen bei Heinz Rühmann und seinen Kollegen vorfährt, dann natürlich im neuesten Modell aus Chemnitz! Auch die DDR-Autoproduktion, auf der im Industriemuseum der Fokus liegt, ließ es vor allem bei synthetischen Materialien nicht an Fantasie und Formenreichtum fehlen.

Dokumentationszentrum für die Morde des NSU

Die dunklen Seiten der jüngsten Vergangenheit werden in Chemnitz gleichfalls in den Blick genommen. „Offener Prozess“ heißt das erst im Mai 2025 eröffnete Dokumentationszentrum für die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Es befindet sich am Johannisplatz, im Herzen der Stadt. Hier wird eindrucksvoll den Lebensgeschichten der Opfer nachgespürt.

In einem Video kann man sich anleiten lassen, die Namen dieser überwiegend türkischstämmigen Männer und Frauen korrekt auszusprechen – ein Akt des Respekts gegenüber den Toten. Man erhält einen Überblick, wie engagierte Gruppen sich jener zehn Menschen annehmen, die zwischen 1998 und 2011 vom NSU getötet wurden.

Und man erfährt, wo es Gedenkstätten, Tafeln, Straßenumbenennungen für diese Opfer gibt. Das Mordtrio lebte mehr als zehn Jahre unentdeckt in Chemnitz; laut Adressverzeichnis von Uwe Mundlos, einem der Täter, stammt ein Drittel der Unterstützer aus Chemnitz und Umgebung.

Nun aber zu den hellen Kapiteln der Vergangenheit, denen Chemnitz zwei absolute Highlights verdankt. Da wäre zum einen das neu gegründete Museum für Karl Schmidt-Rottluff, den großen Künstlersohn der Stadt. Als ungekrönter König der Expressionisten, als Gründer der seinerzeit revolutionären Künstlervereinigung „Die Brücke“, die in Chemnitz aus der Taufe gehoben wurde, ging er in die Annalen der Kunstgeschichte ein.

Er kam 1884 im Ortsteil Rottluff (damals ein 900-Seelen-Dorf) zur Welt. Sein Vater hatte es als Mühlenbesitzer zu Geld gebracht und sich 1914 ein geräumiges Haus im Heimatstil bauen lassen. Hier war der berühmte Sohn oft zu Gast. Sein Familiensinn scheint ausgeprägt gewesen zu sein, davon zeugen schon seine vielen Porträts der Angehörigen. In diesem Karl-Schmidt-Rottluff-Haus hängen nun die Arbeiten auf Papier; in den Kunstsammlungen am Theaterplatz findet man die starkfarbigen Gemälde des Meisters, ganze 40 sind es dort.

In Rottluff also kein brennendes Rot und Gelb, kein knalliges Grün und Violett, auf Öl gemalt, dafür eine große Anzahl an kunstgewerblichen Arbeiten. Schmidt-Rottluff war, ähnlich wie Picasso, ein Alleskönner: Er töpferte, schnitzte, fertigte Schmuck. Das war für Familie und Freunde gedacht, gelangte nicht auf den Kunstmarkt.

Mit dem war Schmidt-Rottluff, wie auch andere „Brücke“-Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Otto Mueller, bestens vernetzt. Wie sehr die jungen Wilden in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg schon in Kategorien wie Marketing und Corporate Identity dachten, zeigen hier Ausweise, Karten, Drucksachen – alle in jenem für den Expressionismus typischen, auf exotisch und „primitiv“ gedrehten Sinn durchgestylt, der vom Sendungsbewusstsein dieser Kunstrichtung zeugte, die sich als Brücke im Sinne Nietzsches verstand: „Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zurück ist“, heißt es in seinem „Also sprach Zarathustra“.

So groß dachten nach 1918 nur noch wenige Künstler. Jetzt trat eine Generation auf den Plan, die anderes im Sinn hatte, als Brücke in eine wie auch immer geartete Zukunft zu sein. Sie hatte mit der eigenen Zeit schließlich genug zu tun! Eine Explosion an Kreativität war die Antwort auf eine Explosion von neuen Staaten, Erfindungen, Beschäftigungen.

Es galt, die neuen Arbeitswelten, die neue Frau, das neue Nachtleben abzubilden. Sich zu Neuen Medien wie dem Rundfunk, zu neuen Freizeitvergnügungen wie dem Sport, zu neuen nun massenhaft auftretenden sozialen Phänomenen wie Einsamkeit, Unsicherheit, Anonymität der Großstädte in Beziehung zu setzen.

Die Gegenwart in ihrer ganzen Disparatheit, aber auch Verheißung von Selbstverwirklichung und Emanzipation, sollte nicht symbolisch überhöht, sondern überhaupt erst einmal realistisch dargestellt werden. Das nennt man gern „Neue Sachlichkeit“.

Enzyklopädische Vielfalt malerischer Handschriften

Aber Anja Richter, die Leiterin von Chemnitz’ zweiten neuem Kunst-Highlight, der Sammlung Gunzenhauser, ist bei den Vorarbeiten zu ihrer Ausstellung „European Realities“ zu dem Schluss gekommen, dass dieser Begriff zu deutschzentriert sei. Gab es nicht in ganz Europa, von Spanien bis Estland, von Bulgarien bis in die Niederlande, eine Wende zu den Sachen selbst? Diese Wende drückte sich mal in einem Zug zu naturalistischer Altmeisterlichkeit aus, aber auch in einem Hang zu surrealen Mitteln, zu Satire, Groteske, Plakativität.

Herausgekommen ist bei diesem Blick auf die künstlerische Aktivität während der Zwischenkriegszeit eine geradezu enzyklopädische Vielfalt malerischer Handschriften. 300 Werke von 190 Künstlerinnen und Künstlern verteilen sich im Museum Gunzenhauser auf vier Etagen. Das Gros der ausgestellten Bilder schlummerte bislang in Depots. Besucher werden mit Namen bekannt gemacht, die viele nie gehört haben, obwohl natürlich auch die allseits bekannten wie Max Beckmann, Otto Dix und George Grosz ins Spiel kommen.

Doch in der Mehrzahl begegnen uns die Arbeiten von Frauen. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie viele ungemein begabte Malerinnen es damals gab. Wir sehen sie heute, wie sie sich damals selbst sahen: Selbstporträts, überhaupt Porträts der vor einem Jahrhundert Lebenden, stellen den Schwerpunkt dieser umwerfenden Schau dar.

Mögen einen noch so viele Wimmelbilder aus der Welt der Fabriken, der Häfen, des Sports, der Städte oder Nachtlokale anspringen: Im Zentrum steht der Mensch, in allen seinen Spielarten – männlich, weiblich, androgyn, transsexuell, bürgerlich, proletarisch, schön, hässlich, intro- und extravertiert, geheimnisvoll.

Hier auf einzelne Bilder einzugehen, wäre ungerecht, weil eigentlich alle 300 Werke eine Erwähnung verdienen. Nur so viel sei gesagt: Noch nie gab es in Deutschland eine Kunstausstellung, in der das Lebensgefühl einer ganzen Epoche so vielfältig zum Ausdruck kommt.

Trotz aller Instabilität und Unsicherheit, was die Zukunft anging, waren die Künstler damals ungeheuer fasziniert von der eigenen Zeit. Ein großer Schub von Lebensfreude und Lebensbejahung geht von diesen Werken aus. Wer könnte das heute nicht gebrauchen? Also auf nach Chemnitz!

Tipps und Informationen:

Wie kommt man hin? Chemnitz ist erreichbar über die Autobahnen A 4 und A 72. Zugreisende kommen von Rostock und Berlin mit dem IC ohne Umsteigen nach Chemnitz, ansonsten gibt es vor allem Regionalverbindungen von und nach Leipzig, Hof und Dresden. ICE-Züge halten nicht in Chemnitz.

Wo wohnt man gut? „Hotel Chemnitzer Hof“, stilvoll-modernes Vier-Sterne-Haus im Zentrum, Doppelzimmer ab 125 Euro (chemnitzer-hof.de). „Hotel Alexxanders“, innenstadtnah, die Zimmer sind im Industrie-Chic eingerichtet, Doppelzimmer ab 114 Euro (alexxanders.de).

Was lohnt sich? kunstsammlungen-chemnitz.de (mit Links zu Museum Gunzenhauser und Karl-Schmidt-Rottluff-Haus); Villa Esche mit Henry-van-de-Velde-Museum: c3-chemnitz.de/unsere-haeuser/villa-esche; weitere Museen: fahrzeugmuseum-chemnitz.de, industriemuseum-chemnitz.de; Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex: offener-prozess.de

Weitere Infos: Auskünfte rund um die Kulturhauptstadt: chemnitz2025.de; touristische Informationen: chemnitz.travel

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