Auf den ersten Blick ist das Oderbruch, das sich zwischen Bad Freienwalde und Neuhardenberg erstreckt, unspektakulär: flaches Land, Felder und Wiesen durchzogen von Wassergräben, ein paar Hügel, große Entfernungen zwischen den wenigen, zumeist kleinen Ortschaften. Spektakulär hingegen ist seine Geschichte, die sich wunderbar mit dem Fahrrad erkunden lässt, denn das Oderbruch ist in weiten Teilen platt wie eine Flunder.

So ein Kurzurlaub ist deshalb immer auch eine Zeitreise in die Geschichte der Trockenlegung einer der größten mitteleuropäischen Sumpflandschaften durch Preußens König Friedrich II. in der Mitte des 18. Jahrhunderts – und noch mehr eine Geschichte von Menschen, die ihr Glück damals gegen alle Widerstände in die eigenen Hände nahmen.

Es ist die Geschichte der gelungenen Umwandlung einer lebensfeindlichen, wilden, mückenverseuchten Naturlandschaft in eine lebens- und liebenswerte Kulturlandschaft. Über die gelungene Aktion soll der Alte Fritz gesagt haben: „Ich habe eine Provinz im Frieden erobert, ohne einen Soldaten zu verlieren.“

Wo sich einst Sümpfe bis zum Horizont erstreckten, kann man heute ohne Mückeninvasionen auf gut ausgebauten Fahrradwegen entlangfahren. Doch wer glaubt, das sei ein Kinderspiel, irrt. In welche Richtung man auch radelt, gefühlt kommt der Wind immer scharf von vorn, nichts stellt sich ihm in den Weg, nichts kann ihn aufhalten.

Früher ein gewaltiger See

Anders als heute kam vor drei Jahrhunderten kaum ein Mensch freiwillig hierher. Theodor Fontane notierte in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, „... daß das Oderbruch vor seiner Urbarmachung eine wüste und wilde Fläche war“.

Zweimal im Jahr, im Frühling und Herbst, stand das Bruch unter Wasser. „Dann glich die ganze Niederung einem gewaltigen Landsee, aus welchem nur die höher gelegenen Teile hervorragten; ja selbst diese wurden bei hohem Wasser überschwemmt“, schrieb der berühmteste märkische Wandersmann über den ungastlichen Landstrich, der, außer ein paar Fischern, kaum jemanden ernährte. Das änderte sich erst mit der Trockenlegung, die 1747 auf Befehl Friedrichs II. begann.

Kein Wunder, dass dem Alten Fritz wegen dieser zivilisatorischen Großtat überall im Oderbruch Denkmäler gesetzt wurden. Das bekannteste steht in Letschin. Lässig auf seinen Stock gestützt, blickt der Monarch vom hohen Sockel hinab ins Oderland, so, als wollte er sagen: Seht her, dieses fruchtbare Land verdankt ihr mir.

Ganz so war es allerdings nicht, ist in der Letschiner Heimatstube zu erfahren. Natürlich ging es dem Alten Fritz nicht darum, das Sumpfland (genau das bedeutet das Wort „Bruch“) aus purer Liebe zu seinen Untertanen trockenzulegen. Vielmehr brauchte der König nach mehreren verlustreichen Kriegen fruchtbares Land für Ackerbau und Viehzucht. Das Oderbruch war genau der Landstrich, der dafür infrage kam.

1747 begannen Hunderte Tagelöhner mit dem Bau eines 20 Kilometer langen Kanals. Am 2. Juli wurde das neue Flussbett geöffnet, das die Oder zähmen sollte. Seitenarme wurden verschlossen, Wälder gerodet, um Platz für neue Ackerflächen zu schaffen. 1753 waren die Hauptarbeiten geschafft und mehr als 32.500 Hektar Ackerland gewonnen. Nun ging es darum, Menschen anzusiedeln, die dieses Land bewirtschaften. Aber woher nehmen?

Theodor Fontane kennt die Antwort: „Das war nichts Leichtes. Eine eigne ‚Kommission zur Herbeischaffung von Kolonisten‘ wurde gegründet, und diese Kommission ließ durch alle preußische Gesandtschaften fleißige und arbeitsame Arbeiter zum Eintritt in die preußischen Staaten einladen. Diese Einladungen hatten in der Tat Erfolg ... So kamen Pfälzer, Schwaben, Polen, Franken, Westfalen, Vogtländer, Mecklenburger, Österreicher und Böhmen.“

Der „Gemüsegarten von Berlin“ war einmal

Was wohl weniger das Ergebnis einer freundlichen Einladung war als viel mehr des Versprechens vom Alten Fritz auf zahlreiche Vergünstigungen: Jede Familie erhielt kostenlos Land; die Religionsausübung war frei (gemäß dem Motto Friedrichs II.: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“); Prediger und Kirchen bezahlte der König. In jedem Dorf gab es eine kostenlose Schule, allen Neusiedlern wurde 15 Jahre Steuerfreiheit zugesichert; sie, ihre Kinder und Kindeskinder wurden vom Militärdienst befreit.

Dieses verlockende Angebot und die damit verbundene Hoffnung auf ein besseres Leben bewog mehr als 7000 Menschen, ihre angestammte Heimat zu verlassen. In 40 neu errichteten Dörfern fanden sie ein neues Zuhause. Doch während der Alte Fritz schnell von seinen neuen Untertanen profitierte, lohnte es sich für die Kolonisten erst später. „Die erste Generation arbeitet sich tot, die zweite leidet Not, die dritte findet ihr Brot“ – ein Spruch, der die Realität treffend zusammenfasst.

Auch heute ist das Oderbruch eine überwiegend landwirtschaftlich geprägte Region, doch schon lange nicht mehr der „Gemüsegarten von Berlin“. Statt Felder mit Kartoffeln, Gurken oder Blumenkohl bestimmen immer mehr riesige Flächen mit Raps, Sonnenblumen oder Mais das Bild. Schön anzusehen, aber alles andere als gut für die Biodiversität.

Es gibt nur noch wenige Bauern im Haupterwerb, nach der Wende fanden immer weniger Menschen hier Arbeit und zogen weg. Dafür entdeckten zahlreiche Künstler und andere kreative Menschen die Landschaft für sich, siedelten sich hier an und gestalteten die alten Häuser nach ihren Bedürfnissen.

Gut 45 mühsame Gegenwindkilometer entfernt von Letschin liegt Neutrebbin, das Radfahrer abseits der großen Straßen erreichen, die Tour führt an Entwässerungsgräben entlang und durch zahlreiche ehemalige Kolonistendörfer. Die 1500-Seelen-Gemeinde verdankt ihren Ursprung ebenfalls der Trockenlegung. Neutrebbins Gasthaus heißt passenderweise „Zum Alten Fritz“, eine schöne Unterkunft, in der man sich liebevoll um Gäste kümmert.

Einst stand hier eine Fischerkate, nach der Trockenlegung wurde der Fischer zum Bauern. 1920 kauften die Großeltern des heutigen Besitzers den Hof. Doch ein Dasein als Bauer, wie noch seine Eltern, war für Jürgen Dunkel keine Alternative, und so verwandelte er sein Elternhaus 1986 zunächst in eine Gaststätte, nach der Wende baute er den ehemaligen Stall zu einer Pension mit 13 gemütlichen Zimmern um, die gern von Naturliebhabern, Radtouristen und Wanderern gebucht werden. See- oder Fischadler lassen sich hier genauso gut beobachten wie Wildgänse und Schwäne, die auf den Feuchtflächen des Bruchs reichlich Nahrung finden.

Dorf unter Denkmalschutz

Morgens wird man vom Geklapper eines Storches geweckt, der sein Nest auf einem Hochsitz direkt vor dem Haus gebaut hat. Zum Frühstück gibt es Produkte aus der Region, dann geht es weiter nach Neulietzegöricke, ins älteste und schönste Kolonistendorf im Oderbruch. Der Weg dorthin führt durch Neubarnim – ein schöner Fotostopp dank der 1858 angelegten, zwei Kilometer langen Lindenallee, die älteste ihrer Art in Brandenburg.

Neulietzegöricke entstand, wie die anderen Kolonistendörfer, 1753 auf dem Reißbrett als typisches Straßendorf: In der Mitte, zwischen den beiden Dorfstraßen, wurde auf etwa 850 Meter Länge der Schachtgraben, ein Wasserabzugsgraben, angelegt. Der Aushub wurde vor Ort weiterverwertet, er diente zur Erhöhung der Baustellen der Kolonistenhäuser, die rechts und links des Grabens entlang der Straße errichtet wurden. Mitten im Dorf entstanden Kirche, Gasthof und Schulhaus. Nach nur einem Jahr Bauzeit war alles fertig, 40 Familien mit rund 250 Menschen fanden hier eine neue Heimat.

Seit 1976 steht das Dorf unter Denkmalschutz. Viele der historischen Fachwerkhäuser der Kolonisten wurden nach der Wende denkmalgerecht saniert, staatliche Fördermittel machten es möglich.

Heute leben knapp 200 Menschen in Neulietzegöricke, einige sind direkte Nachfahren der Kolonisten. Wie Martina Herrlich-Gryzan, die seit 2014 an mehreren Tagen pro Woche in der alten Schule ihr „Kolonisten-Kaffee“ und ganzjährig eine Pension betreibt – der beste Platz für eine entspannende Pause bei selbstgebackenem Kuchen und interessanten Geschichten wie dieser: „Friedrich II. war selbst leidenschaftlicher Kaffeetrinker“, erzählt die Wirtin, „ein Genuss, den er seinen Untertanen nicht gönnte: Ab 1780 ließ er rund 400 Kriegsinvaliden durch preußische Kommunen ‚schnüffeln‘, auch im Oderbruch – die ‚Schnüffler‘ sollten feststellen, wo gesetzeswidrig privat Bohnenkaffee geröstet wurde. Ihre Nasen sollten helfen, Geld im Land zu halten und für einheimischen Malzkaffee auszugeben, um Preußens Wirtschaft zu stärken.“

Weiter geht es, Richtung Oder. Nur wenige Meter vom Fluss entfernt steht ein Gebäudekomplex, dessen Baustil wie eine Mischung aus Friedensreich Hundertwasser und Hobbits daherkommt: Es gibt keine gerade Wand, dafür dick mit Trockenpflanzen und Moos bewachsene Dächer, schmückende Mosaike, viel Holz; alles wirkt improvisiert.

Das passt zum Konzept, schließlich handelt es sich um das „Theater am Rand“, eines der ungewöhnlichsten privat geführten freien Theater Deutschlands. Der Name erklärt sich aus der Lage an der Grenze zu Polen: Mehr am Rand eines Landes kann man wohl nicht liegen.

Seit 1998, als hier alles im Wohnzimmer des Musikers Thomas Morgenstern begann, hat sich das Theater einen besonderen Platz in der Kulturlandschaft erobert. Seit 2014 wird im jetzigen Gebäude gespielt. Das Repertoire ist breit gefächert, die Zuschauer kommen in Scharen von weither, um am Grenzfluss große Bühnenkunst zu erleben, gespielt oder gesungen. Das dürfte ganz im Sinne des Alten Fritz sein, von dem dieser Spruch überliefert ist: „Was ist schöner, als Vergnügungen des Geistes.“

Europabrücke verbindet Polen und Deutschland

Nächste Station: Zollbrücke am Oderdamm, keine 100 Meter vom Theater entfernt. Der Fluss fließt ruhig dahin. Ganz anders als im Sommer 1997, als die Oder hier außer Rand und Band war und die verheerende Flut alles mitriss, was ihr in die Quere kam – Menschen, Tiere, Häuser. Dank Bundeswehr und Helfern aus ganz Deutschland konnte ein noch größeres Inferno verhindert werden: Die Dämme schwankten, aber sie hielten den Fluten stand.

Längst genießen wieder Radtouristen, Skater und Spaziergänger ihren Ausflug entlang des Deiches auf dem gut 600 Kilometer langen Oder-Neiße-Radweg. Seit drei Jahren können sie nur vier Kilometer von Zollbrücke entfernt endlich auch grenzenlos zwischen Polen und Deutschland hin und her pendeln.

Nach jahrelanger Bauzeit wurde die Europabrücke für Fahrräder und Fußgänger im Juni 2022 eröffnet. Insgesamt 860 Meter lang, führen je 330 Meter auf deutscher und polnischer Seite über die Oder, verbunden mit einem 200 Meter langen Damm über eine Insel mitten im Grenzfluss. Eine Aussichtsplattform auf dem polnischen Teil der Brücke bietet einen weiten Blick über den Fluss hinein ins Oderbruch.

Wer mag, macht ein Picknick mitten im Fluss, denn auf dem polnischen Teil der Brücke laden zahlreiche Tische und Bänke zu einer Rast ein. Gut gestärkt kann danach die letzte Etappe in Angriff genommen werden: Immer geradeaus von der Fahrradbrücke bis nach Wriezen zum Bahnhof der Regionalbahn nach Berlin führt der Weg.

Die Route ist beidseitig eng von Bäumen und Büschen gesäumt. Ein Segen! Denn erstmals auf der Tour pustet der Gott des Windes nicht von vorn, sondern von hinten. Mit Rückenwind ist das Oderbruch einfach schöner.

Tipps und Informationen:

An- und Abreise: Von Berlin fährt man in gut einer Stunde mit dem Regionalzug RB 26 nach Seelow-Gusow, einem guten Ausgangspunkt für eine Oderbruch-Tour, zurück geht es von Wriezen über Eberswalde (RB 60/RE 3).

Wo wohnt man gut? Landgasthof und Pension „Zum Alten Fritz“ in Neutrebbin, gastfreundliches Familienunternehmen mit guter Küche und Weinkeller, Doppelzimmer mit Frühstück ab 120 Euro (gasthof-zum-alten-fritz.de). Die Pension im „Kolonisten-Kaffee“ in Neulietzegöricke bietet gemütliche Doppelzimmer ab 90 Euro (kolonisten-kaffee.de).

Buchtipp: Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ wurden erstmals 1862 veröffentlicht, ursprünglich in fünf Bänden, wobei das Oderbruch in Band zwei vorkommt. Bei Hofenburg und im Aufbau-Verlag erscheint der historisch-literarische Reiseführer auch heute noch, als Gesamtwerk in einem Sammelband.

Weitere Infos: seenland-oderspree.de

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt vom Tourismusverband Seenland Oder-Spree. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit

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