Dieses Bild berührt Sie nicht mehr? Dahinter steckt Absicht
Wenn ich Ihnen sage, dass dieser Text von sterbenden palästinensischen Kindern handelt – werden Sie wegklicken? Weiterwischen? Woanders hinschauen? Weil Sie sich kaputtgesehen haben an den Bildern von Leid, Hunger und Zerstörung? Weil die Bomben nun schon seit fast 600 Tagen fallen und sich nichts zu ändern scheint in diesem Todesstreifen, der sich Gaza nennt? Weil es doch gerade uns Deutschen nicht zusteht, mit dem Zeigefinger auf Israel zu deuten?
Sollten Sie all diese Fragen innerlich mit "Ja" beantworten, dann hätte Zvi Sukkot sein Ziel erreicht. Ganz freimütig gestand der rechtsextreme Abgeordnete aus Benjamin Netanjahus Regierungskoalition neulich im israelischen Fernsehen ein schockierendes Kalkül ein: "Jeder hat sich an die Tatsache gewöhnt, dass du 100 Menschen in Gaza in einer Nacht töten kannst", sagte er. "Niemanden auf der Welt interessiert es."
100 Tote pro Nacht in Gaza: normal. Mehr als 19 Monate Krieg: Alltag.
Alltag für die leidgeplagten Menschen in Dschabalia, Nuseirat oder Chan Junis, die jeden Morgen wieder aufstehen und nicht wissen, ob abends ihre Wohnung noch steht. Und was sie bis dahin essen sollen.
Alltag für uns Reporter beim stern, die wir über die täglichen Bombardierungen des israelischen Militärs immer seltener berichten.
Alltag für Sie als Leserinnen und Leser, deren Interesse an der Lage in Nahost – das zeigen unsere Klickzahlen – spürbar nachlässt.
Und Alltag für deutsche Politiker, die auf Auslandsreisen nach Israel wichtigerweise die verblassenden Erinnerungen des Hamas-Terrors am 7. Oktober aufzuhellen versuchen, sich mit Geiselangehörigen treffen, die Orte des Schreckens besuchen – und sich routiniert in ein Gesprächskorsett zwängen. Am Ende bleibt dann eben nur noch Luft für ein paar dünne Sätze zur Lage in Gaza.
Israel begeht Kriegsverbrechen. Wir Deutsche schauen zu
Doch Krieg darf niemals zum Alltag werden. Genau darauf setzt aber Israels Regierungschef. Noch so oft mag er behaupten, für den "totalen Sieg" über den Terror und die Befreiung der in Hamas-Händen verbliebenen Geiseln zu kämpfen. Am Ende weiß er genau: Wenn die Bomben auf Gaza aufhören zu fallen, nähert sich der Tag, an dem seine wackelige Regierung zusammenbricht und er wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht steht.
Es mag schmerzhaft sein, das auszusprechen, aber: Unter Netanjahus Führung begeht Israel – jener Staat, dem die Bundesrepublik nach dem schlimmstmöglichen Gräuel der Menschheitsgeschichte verbunden ist wie keinem anderen – gerade selbst Kriegsverbrechen. Namhafte Völkerrechtler sprechen gar von Genozid. Und wir Deutsche schauen nicht nur dabei zu, viel zu lange schon – wir liefern auch noch die Waffen dafür.
Es ist noch nicht zu spät, das zu ändern.

Ein Jahr Krieg Im Niemandsland: Wie Gaza systematisch zerstört wurde
In der vergangenen Woche reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Jerusalem. Amtskollege Jitzchak Herzog lud zum festlichen Dinner, zu feiern gab es das 60-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen beider Länder. Der Gastgeber prostete: "Die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel ist ein Geschenk – und auch eine Verantwortung." Nur zählt zur Verantwortung einer Freundschaft eben auch, unangenehme Wahrheiten klar ansprechen zu können.
Der Gedanke, wir Deutsche hätten uns mit Kritik an israelischer Politik gefälligst zurückzuhalten, ist seit jeher ein irreführender. Deutschland hat sich die Verteidigung des Existenzrechts Israels auf die schwarz-rot-goldene Fahne geschrieben, aber ganz oben in sein Grundgesetz, Artikel 1, eben auch die Achtung der Menschenwürde.
Die Lehren aus dem Holocaust waren schon immer mehrdimensional: Nie wieder sollen Juden sich in dieser Welt verfolgt fühlen. Und nie wieder soll, ganz allgemein formuliert, ein Volk entmenschlicht werden. Eine Staatsräson entbindet nicht von der Pflicht, Recht und Unrecht zu unterscheiden.
"Urteilt nicht über uns! Nicht jetzt!"
Wenn israelische Soldaten systematisch Universitäten zerstören, wenn sie Häuser unter schallendem Lachen mit blauem Farbstoff in die Luft gehen lassen, im Stile einer Gender-reveal-Party; wenn eine Hungersnot provoziert wird, weil Hilfsgüter absichtlich zurückgehalten werden wie in den vergangenen zwei Monaten; wenn Benjamin Netanjahu vom Selbstverteidigungs- in den Rachemodus schaltet – dann muss Deutschland seine Stimme erheben.
Es war Oktober 2023, kurz nach dem schrecklichen Hamas-Überfall, das Blut in den Wohnzimmern der Kibbuzim war kaum getrocknet, da traf ich in Tel Aviv einen pensionierten Mann, der seine eingefallenen Augen hinter einer Ray-Ban-Sonnenbrille versteckte. Dan Chalutz war Generalstabschef der israelischen Armee gewesen und hatte 2005 deren Abzug aus Gaza nach jahrzehntelanger Besatzung verantwortet. Nun zog Israel erneut in den Krieg. Aus nachvollziehbaren Gründen.
"Wir werden weitermachen. Egal, wie lange es dauert", sagte Chalutz damals.
"Auch, wenn Tausende unschuldige Zivilisten dabei sterben müssen?", fragte ich ihn.
"Wer sagt, dass sie unschuldig sind?", antwortete er. "Urteilt nicht über uns! Nicht jetzt!"

Bestseller-Autor Harari "Schon in zwei, drei Jahren kann uns die Kontrolle entgleiten"
Heute, anderthalb Jahre später, lässt Israels ehemaliger Premierminister Ehud Olmert sich in der BBC mit den Worten zitieren: Was sein Land gerade in Gaza mache, sei "sehr nahe an einem Kriegsverbrechen". Währenddessen fordert Netanjahus rechtsradikaler Finanzminister Bezalel Smotrich noch immer, Gaza zu "säubern".
Ihr 103-jähriges Leben lang hat die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer den Deutschen vor allem einen Satz ins Gewissen gestanzt: "Seid Menschen." Kürzlich ist ihre Stimme für immer verstummt. Der Gedanke daran, dass bald die letzten Zeitzeugen dieser dunklen Jahre von uns gegangen sein werden, schmerzt in diesen Tagen mehr als ohnehin schon.
Kein Kind verdient es zu hungern, nur weil es nicht in Haifa, sondern in Rafah geboren ist. Keine Mutter verdient es, zur Witwe zu werden, weil sich in ihrer Nachbarschaft Terroristen verstecken. Kein Vater verdient es, seine Familie alle paar Wochen zum Weiterziehen drängen zu müssen, auf klapprigen Eselskarren, wenn überhaupt, weil Israels Armee die nächste Großoffensive startet. Kein Mensch verdient, so zu leben wie die Palästinenser in Gaza.

Deutschlands engste Verbündete sprechen das inzwischen deutlich aus. Und handeln entsprechend. Die Regierungen von Frankreich, Großbritannien und Kanada veröffentlichten soeben ein gemeinsames Statement, in dem sie Netanjahus Regierung mit Sanktionen drohen, sollte er seine Militäroffensive nicht einstellen.
Der britische Premier Keir Starmer stoppte Verhandlungen zu einem Freihandelsdeal mit der Regierung in Jerusalem. Auch die EU prüft nun, ob Israels Kriegsführung die Grundlagen eines bestehenden Assoziierungsabkommens verletzt. Eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten verlangte diesen Schritt. Deutschland war dagegen.
Selbst Donald Trump, der sich Anfang des Jahres noch an eine "Riviera des Nahen Ostens" in Gaza mit seinem Freund Netanjahu träumte, geht inzwischen offen auf Abstand, kritisiert dessen Strategie und richtet seine Nahostpolitik nicht mehr nach dem israelischen Kompass aus. Er verhandelt mit den Iranern, dealt mit den Saudis, hat den US-Krieg gegen die Huthis im Jemen beendet.

Trumps Nahost-Reise Der Tod und der Handlungsreisende
Und auch im eigenen Land widersetzen sich Menschen ihrem Premier, von denen man das vielleicht nicht erwarten würde: Zehntausende Veteranen, Reservisten und hochrangige Militärs sprechen sich öffentlich gegen Netanjahus zielloses Kriegstreiben und die geplante Besatzung des Gazastreifens aus. Das größte Forum der Geiselangehörigen fordert lange schon eine diplomatische, keine militärische Lösung, um ihre Angehörigen aus der Gewalt der Islamisten zu befreien.
Während Steinmeier feiert, fallen Bomben auf ein Krankenhaus
Nur die Bundesregierung hält unbeirrbar an ihrer Komme-was-wolle-Doktrin fest, verpackt ihre Kritik mit Schleifchen in nette Appelle. Bundeskanzler Friedrich Merz etwa "hofft sehr", dass die israelische Regierung sich ihrer Verpflichtung gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza bewusst ist. Und was macht Netanjahu?
Als Präsident Steinmeier vergangene Woche gerade festlich in Jerusalem dinierte, warf Israels Luftwaffe knapp 100 Kilometer südwestlich bunkerbrechende Bomben auf das Gelände des von EU-Geldern gebauten Europäischen Krankenhauses in Chan Junis. Der Schlag diente Militärangaben zufolge dem derzeitigen Hamas-Führer Mohammed Sinwar. Ob er tot ist oder nicht, ist bis heute unbekannt.
Doch nach Auskunft des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums starben 28 Menschen bei dem Klinikangriff, Dutzende wurden verletzt, darunter ein Journalist, der für die BBC arbeitete. Jenseits der Grenze schloss Steinmeier seine Rede mit den Worten: "Deutschland ist an eurer Seite. Immer."

Es ist das Grunddilemma unseres Umgangs mit dem Nahostkonflikt: Zu denken, man müsse sich für eine Seite entscheiden, man könne nur entweder "Staatsräson" oder "From the river to the sea" rufen. Als wäre dieser Krieg ein Fußballderby. Nein, das israelische Trauma und das palästinensische Leid koexistieren. Ja, Deutschland muss immer an der Seite der Juden stehen. Aber die Unterstützung für diese israelische Regierung darf eben nicht bedingungslos sein.
Das heißt dann ganz konkret: Wenn Netanjahu vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht wird, dann darf es – anders als von Merz angekündigt – eben keinen Deutschlandbesuch des Premiers geben.
Wenn diese israelische Regierung nicht einlenkt, dann muss auch Deutschland ernsthaft über Sanktionen nachdenken, etwa gegen radikale Siedler und deren Fürsprecher im Kabinett. Und über einen Stopp der Waffenlieferungen.
Und wenn Berlin es ernst meint als selbst ernannter Verfechter einer Zwei-Staaten-Lösung, dann darf auch die Anerkennung Palästinas als eigener Staat kein Tabu mehr sein.
Aus Gaza kommt eine Nachricht: "Ich habe die Bombardierung überlebt"
Eine breite Mehrheit der Deutschen kritisiert in einer stern-Umfrage Israels militärisches Vorgehen. Aber Umfragen sind bequem, anonym, unverbindlich. Wir alle müssen offener und frei vom Würgegriff der Kollektivschuld über das israelische Unrecht in Gaza sprechen, ohne dabei in den Chor derjenigen einzusteigen, die auf deutschen Straßen das Existenzrecht Israels infrage stellen oder zu Boykotten aufrufen wie kürzlich erst beim Eurovision Song Contest.
Denn Benjamin Netanjahu ist für Druck durchaus noch sensibel, wie er in dieser Woche auf entlarvende Weise unter Beweis gestellt hat. Dass er die Blockade Gazas nun lockert und wieder ein absolutes Minimum an Hilfsgütern über die Grenzen lässt, tut er nicht aus Menschlichkeit, sondern – wörtlich: "Um die Unterstützung unserer guten Freunde zu sichern." Es liegt also vor allem auch an uns, den besten Freunden, Netanjahu von seinem falschen Weg abzubringen.
Sie lesen noch immer? Gut. Ich will Ihnen zum Ende von Mohammed Aiash erzählen.
Mohammed hat sieben Kinder und lebt in Nordgaza. Er war Stipendiat an der Universität Stuttgart, am Institut für Siedlungswasserbau. Im Herbst 2023 reiste er für einen Heimatbesuch nach Gaza. Seitdem ist er dort im Krieg gefangen. Wir stehen über Whatsapp in Kontakt.
Als ich abends an den letzten Zeilen für diesen Text arbeite, schickt Mohammed mir Fotos. Sie zeigen den Ausblick aus seiner halb zerstörten Wohnung in Dschabalia. Staubwolken ziehen über die Trümmer des Gebäudes nebenan. Später sendet er dieses kurze Video hinterher.

Er schreibt: "Ich habe gerade die Bombardierung des Nachbarhauses überlebt." Sonst nichts. Keine Emojis. Kein Wehklagen. Vollkommene Apathie. 84 Menschen sind nach palästinensischen Angaben an diesem Mittwoch gestorben. Ein ganz normaler Tag in Gaza.
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