Es waren ausgerechnet drei Raketen, die Ende März aus dem Süden Libanons in Richtung Israel flogen, die zum Zeichen der Entmachtung der Hisbollah wurden. Die islamistische Miliz distanzierte sich überraschend schnell von dem Bruch der Waffenruhe mit dem jüdischen Staat, ebenso die Vertreter der Hamas.

Die staatliche Armee des Libanon suchte nach den Verantwortlichen, die sich als Funktionäre der Hamas herausstellten, die angeblich eigenständig gehandelt hatten. Vier Verdächtige waren in palästinensischen Flüchtlingslagern untergetaucht. Für einen kurzen Moment schien es, als könnte es zu einem Showdown zwischen den libanesischen Streitkräften und der Hamas kommen. Aber die Hamas gab nach und lieferte die Verdächtigen aus.

Viele Jahre zuvor hatte die Hamas mit dem Segen der Hisbollah und der iranischen Revolutionsgarden ihren Einfluss in den Palästinenserlagern im Libanon ausgebaut und sogar Kämpfer dort trainiert. Doch nun verschieben sich die Machtverhältnisse im Libanon. Im Zentrum steht der neue Präsident Joseph Aoun.

Im Libanon basiert das politische System auf einer bestimmten Machtteilung zwischen religiösen Gruppen. Rund ein Drittel der Libanesen ist christlichen Glaubens. Aoun ist einer davon: ein maronitischer Christ. Als ihn das Parlament im Januar wählte, kündigte der frühere Militärchef den „Beginn einer neuen Ära“ an.

Aoun versprach, unter seiner Führung werde der Staat sein Gewaltmonopol überall im Land wiederherstellen. Über Jahrzehnte hatten sich Milizen wie die Hisbollah und palästinensische Fraktionen die Schwäche des Staates zunutze gemacht und sich eigene Machtgebiete im Libanon verschafft, sogar in der Hauptstadt Beirut. Das soll nun ein Ende nehmen, erklärte der Präsident.

Ins Amt getragen hatten Aoun der Machtverlust des Iran, die vernichtenden Militärschläge Israels gegen die Hisbollah sowie der Sturz des Diktators Baschar al-Assad in Syrien. In seiner Antrittsrede sprach Aoun von einem „nahöstlichen Erdbeben“, in dem „Allianzen zerbrochen und Regime gestürzt sind“.

Nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 hatte sich die Hisbollah dem Kampf gegen den jüdischen Staat angeschlossen, feuerte Raketen auf Israel und zwang die Evakuierung Hunderttausender im Norden Israels – und wurde daraufhin vom israelischen Militär zerschlagen. Nach Angaben der israelischen Armee wurden 80 Prozent des Raketenarsenals der Hisbollah zerstört, mit Luftanschlägen nahezu alle Führungsfiguren getötet.

Im benachbarten Syrien marschierten die Rebellen Ende 2024 aus dem Nordwesten des Landes auf Damaskus und zwangen Assad zur Flucht nach Moskau. Damit verlor die Hisbollah ihren Versorgungskorridor auf dem Landweg aus dem Iran. In diesem Moment der Schwäche für die Hisbollah sah der heutige Präsident Aoun, damals noch Militärchef, seine Chance und nahm die ersten Milizen im Land ins Visier.

Es war noch nicht die Hisbollah, sondern die militanten Palästinenser-Fraktionen im Libanon. Über Jahrzehnte hinweg hatte die Assad-Diktatur Waffen in den Libanon geschmuggelt. Nun brachte Aoun diese Grenze unter die Kontrolle der libanesischen Streitkräfte. Assad hatte palästinensische Stellvertreter-Milizen im Libanon. Nach seinem Sturz waren diese schutzlos; Aoun entwaffnete sie schnell.

In der Folge erlebte Aoun einen politischen Höhenflug im Libanon. Zuvor war das oberste Amt im Staat unbesetzt geblieben, das Parlament konnte sich nicht auf einen Präsidenten einigen. Mit arabischer und westlicher Unterstützung trat Aoun gegen Konkurrenten aus dem Lager der Hisbollah an und gewann.

Die größte libanesische Tageszeitung An-Nahar titelte: „Aoun ist der Mann der Stunde“. Im kriegsmüden Libanon zog der General – mit großen Erwartungen für Sicherheit und Frieden – in den Präsidialpalast bei Beirut ein.

Der Raketenbeschuss auf Israel im März war seine erste Machtprobe – und er reagierte entschieden. Aoun berief den Obersten Verteidigungsrat ein. Die Staatshüter drohten den palästinensischen Milizen auf einer Pressekonferenz mit den „allerhöchsten Maßnahmen“. Dies war eine beispiellose Demütigung der Hisbollah-Verbündeten im Libanon.

Seit dieser Wende wird in den libanesischen Talkshows kein anderes Thema so heftig diskutiert wie das seit Jahrzehnten ersehnte Ende der Milizengewalt im Land – und die Frage, ob die Entwaffnung der palästinensischen Fraktionen ein Vorgeschmack auf das sein könnte, was auf die Hisbollah zukommt.

Unterstützung gegen die palästinensischen Milizen erhält Aoun aus Ramallah. Bereits vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober hatte der Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas von der säkularen Fatah versucht, die palästinensischen Camps im Libanon zu entwaffnen – ohne Erfolg.

Unterstützung aus Ramallah

Am heutigen Mittwoch wird Abbas in Beirut erwartet und will über die Entwaffnung beraten. Zwar ist der Einfluss von Abbas begrenzt, doch er hat bei seinem Vorhaben Unterstützung vom mächtigen Saudi-Arabien. Die Saudis wollen die iranische Achse in Syrien und im Libanon vollends überwinden.

Kürzlich hat Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman mit US-Präsident Donald Trump die Aufhebung der Syrien-Sanktionen verhandelt. Auch die EU schließt sich dem an, um den Wiederaufbau Syriens zu fördern. Zeitgleich verschärfte Trump die Sanktionen gegen den Iran und steigerte den Druck auf die Hisbollah im Libanon, die nun umzingelt wird.

Seit die neuen Machthaber in Damaskus an die Macht gekommen sind, haben sie zahlreiche Schmuggelversuche zwischen dem Libanon und Syrien verhindert – und gerieten auch in bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Hisbollah.

Doch nicht nur auf dem Landweg wird die Hisbollah bedrängt. Laut einem Bericht des „Wall Street Journal“ verliert die Hisbollah auch die Kontrolle über den Flughafen in Beirut. Lange galt dieser als von der Terrormiliz infiltriert. Nun unterbindet die libanesische Regierung seit Mitte Februar direkte Flüge in und aus dem Iran und entlässt Mitarbeiter mit Hisbollah-Verbindungen.

Das zwingt die Terrororganisation dazu, neue Schmuggelwege zu finden. Dem saudischen Sender „Al-Arabiya“ zufolge nehmen die radikalen Schiiten zunehmend den Hafen von Beirut ins Visier.

Nachlassende Unterstützung für Hisbollah

Bevor die Hisbollah wieder erstarkt, will Aoun sie entwaffnen und in eine rein politische Kraft umwandeln. Er weiß, dass sie nicht ganz verschwinden werden – schließlich stellen die Schiiten ein Drittel der Gesamtbevölkerung im Libanon.

Laut libanesischen Angaben wurden bereits bis zu 85 Prozent der Stellungen der Hisbollah im Südlibanon geräumt. Um das restliche Gebiet zu klären, fordert der libanesische Präsident Israel auf, weitere Militärschläge zu unterlassen. Ende April beklagte Aoun „über 3000 Fälle“, in denen Israel die Waffenruhe gebrochen habe und im Libanon Angriffe gegen Hisbollah-Stellungen fliegen ließ.

In einem Interview mit „Sky News Arabia“ sagte Aoun, die israelische Armee habe bisher fünf ihrer Stellungen im Südlibanon behalten, zu denen die libanesischen Streitkräfte keinen Zugang hätten – was ihre Räumung unmöglich mache. Israels Verteidigungsminister Israel Katz hatte zuvor angekündigt, dort würden die israelischen Truppen „auf unbefristete Zeit“ verbleiben, um eine Rückkehr der Hisbollah zu verhindern.

Der Iran, der die Hisbollah als Speerspitze im Kampf gegen Israel ausstattet, lehnt das Entwaffnungsprojekt Aouns ab. Irans Botschafter im Libanon, Mojtaba Amani, bezeichnete das Vorhaben Ende April als eine „klare Verschwörung“, die die arabischen Länder „anfällig für Angriffe und Besatzung“ mache.

Jahrzehntelang hatte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eine unbestrittene Macht im Libanon. In Wutreden sagte er, die Hand, die sich nach den Waffen der Hisbollah ausstrecke, „werden wir abhacken“. Im vergangenen September tötete Israel ihn mit einem massiven Schlag auf das unterirdische Hauptquartier in Beirut.

Israels Geheimdienst verfügte offensichtlich über beste Informationen über den Führungszirkel der Hisbollah – ein weiteres Zeichen für die nachlassende Unterstützung im Libanon. Erst fünf Monate später wurde Nasrallah beerdigt. Zu der Propaganda-Show, zu der eine hochrangige Delegation aus dem Iran nach Beirut geflogen war, erschien Präsident Aoun trotz offizieller Einladung nicht.

Immerhin traf er sich mit den iranischen Vertretern. Sein Statement danach: „Der Libanon ist es leid, die Kriege anderer auf seinem Boden auszutragen.“ Ob es ihm gelingt, dem ein Ende zu setzen, wird davon abhängen, wer seine Macht zuerst ausbaut: er oder die Hisbollah.

Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahostkonflikt.

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