Überraschender Wahlabend in Polen – Tusk-Kandidat Trzaskowski wesentlich knapper vorn als erwartet
Rafal Trzaskowski muss sich sichtbar Mühe geben, entschlossen zu wirken. „Ich gehe Richtung Sieg für euch alle“, ruft er unmittelbar nach der Bekanntgabe der ersten Nachwahlbefragungen seinen Anhängern in der Kleinstadt Sandomierz in Südostpolen zu. Die applaudieren zwar, raunen aber auch immer wieder gut hörbar in den Raum. 30,8 Prozent der Stimmen hat der Kandidat der Bürgerplattform (PO) ersten sogenannten Exit Polls zufolge erhalten. Unerwartet dicht auf Trzaskowski folgt Karol Nawrocki, der Kandidat der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), mit 29,1 Prozent der Stimmen.
Kommt es nicht noch zu Verschiebungen von mindestens 15 Prozent, müssen die Kandidaten Trzaskowski und Nawrocki in zwei Wochen, am 1. Juni, in eine Stichwahl gehen. Auf dem dritten Platz liegt Slawomir Mentzen von der rechtsextremen Konfederacja mit 15,4 Prozent der Stimmen. Mit dem amtlichen Endergebnis sei Montagabend oder in der Nacht von Montag auf Dienstag zu rechnen. Das erklärte am Sonntagnachmittag der Vorsitzende der Staatlichen Wahlkommission, Sylwester Marciniak.
Polen erlebt einen überraschenden Wahlabend. Damit, dass die beiden Kandidaten der großen Parteien im ersten Wahlgang so nah beieinander liegen, hat kaum jemand gerechnet. Umfragen vor der Wahlrunde am Wochenende sahen Trzaskowski deutlich vor Nawrocki. Das Meinungsforschungsinstitut Ibris gab dem Kandidaten der größten Regierungspartei PO und damit von Premierminister Donald Tusk 33,7 Prozent, dem Herausforderer der PiS 21,6.
Nawrocki galt als geschwächt, mehr als zwei Wochen war er in der Defensive, nachdem ein Immobilienskandal ihn und seine Kampagne ausgebremst hatte. Mutmaßlich hat Nawrocki einen Rentner um dessen Wohnung betrogen; dem hilfsbedürftigen Mann hatte er besprochen, ihn zu pflegen, wusste offenbar aber nicht mal, wo er sich aufhält. Vor allem die Nachrichtenplattform „Onet“ und die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ decken immer mehr Details zu dem Fall auf. Viele Beobachter erwarteten, dass der Skandal folgenschwer für Nawrocki enden werde. Die PiS immerhin ist die Partei der älteren Wähler und Rentner.
Trzaskowskis Anhänger sind geschockt
Offenbar jedoch haben sich sich mehrheitlich nicht davon abringen lassen, für Nawrocki zu stimmen. Vieles deutet bereits darauf hin, dass der Nationalkonservative seine Wählerschaft – trotz des Immobilienskandals – besser mobilisieren konnte, als Trzaskowski. Die Wahlbeteiligung in den östlichen Woiwodschaften des Landes, also den größten Verwaltungseinheiten, war bereits am Nachmittag höher als im Westen. Im Osten dominiert traditionell die PiS.
Nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Nachwahlbefragungen sind die Anhänger Trzaskowskis geschockt, in der Straßen des Stadtzentrums von Warschau ist es teilweise totenstill. Die Hauptstadt ist eine Hochburg der PO, Trzaskowski ist seit 2018 dort Bürgermeister – Stadtpräsident, wie das Amt auf Polnisch heißt.
Umso lauter, enthusiastischer geht es in Danzig an der Ostsee zu, wo Nawrocki am Abend zu seinen Anhängern spricht. „So gewinnen wir diese Wahlen! Das wird mit unserem gemeinsamen Sieg enden, dem Sieg Polens“, brüllt er etwas heiser, offenbar immer noch überrascht, aber gleichzeitig euphorisiert aufgrund der Zahlen. Sofort Stimmen die Anwesenden mit ein: „Wir werden siegen!“, rufen sie.
Amtsinhaber Andrzej Duda, der 2015 von der PiS aufgestellt wurde, konnte nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten. Trzaskowski oder Nawrocki: einer von beiden – so viel scheint klar zu sein – wird am 1. Juni zum neuen Präsidenten Polens gewählt. Das Rennen allerdings ist vollkommen offen. Nicht nur, weil die Zahlen der zwei Männer überraschend nah beieinander liegen, sondern auch, weil unklar ist, wie sich die Wähler vieler anderer Kandidaten entscheiden werden.
Dass die Anhänger der zwei linken Kandidaten, Adrian Zandberg und Magdalena Biejat, in zwei Wochen für Trzaskowski abstimmen, ist nicht ausgemacht, ebenso wenig, dass die Rechtsextremen Nawrocki zuneigen. Deren Kandidat Mentzen hatte Nawrocki nach immer mehr Enthüllungen in Zusammenhang mit dem Wohnungsskandal zuletzt scharf angegriffen.
Tusk schreibt von einem „Spiel um alles“
Anspannung dürfte vor allem im Regierungslager herrschen. Denn Premierminister Tusk ist auf den Präsidenten angewiesen, wie niemand vor ihm. Die kommenden zwei Wochen bezeichnete er am Abend auf X denn auch als „Spiel um alles“. Tusk zwar konnte im Oktober 2023 die Parlamentswahlen gewinnen, doch stecken seine versprochenen Reformen fest; die Regierung ist unbeliebt, auch bei der eigenen Wählerschaft, die enttäuscht darüber ist, dass Tusk keine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechts durchgesetzt hat oder dass der Staatsumbau der PiS, vor allem die sogenannte Justizreform, nicht rückgängig gemacht wurde.
Eine groß angekündigte „Redemokratisierung“ des polnischen Staates ist weitgehend ausgeblieben. Der Grund: Präsident Duda macht regelmäßig von seinem Veto Gebrauch; der polnische Präsident kann Gesetzesinitiativen blockieren oder sie zur Überprüfung an das Verfassungsgericht weiterleiten, das immer noch zu großen Teilen mit PiS-Loyalisten besetzt ist. Laut der polnischen Verfassung soll der Präsident eigentlich parteipolitisch neutral agieren. Duda, der aus dem PiS-Lager stammt, tut genau dies aber nicht. Es ist zu erwarten, dass ein Präsident Nawrocki auf ähnliche Weise gegen die Regierung arbeiten würde.
Sollte Nawrocki im zweiten Wahlgang zum Präsidenten gewählt werden, dürfte Polen eine handfeste Regierungskrise ins Haus stehen. Das Land zwar tritt außenpolitisch selbstbewusst und beherzt auf, ist in Europa der Antreiber bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine, fordert stets härtere Russland-Sanktionen und gilt nicht zuletzt als Vorbild innerhalb der Nato; Polen gibt mehr als vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung aus, will gar in diesem Jahr auf fünf Prozent hochgehen. Das ist der Bündnisrekord.
Doch die Regierung Tusk steht zu Hause auf wackligen Beinen. Die Gegensätze in der Koalition zwischen dem Tusk-Bündnis Bürgerkoalition (KO), der Bauernpartei (PSL) und der Linken sind groß – bei weltanschaulichen Themen, dem Reizthema Abtreibung oder in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Koalition würde drohen, abzubrechen. Neuwahlen wären die Folge. Die PiS, die immer noch die stärkste Einzelpartei ist und in Umfragen vorn liegt, könnte wieder ein Regierungsbündnis schmieden – unter Umständen mit der rechtsextremen Konfederacja.
Mentzens Ergebnis ist die zweite große Überraschung
Deren Zahlen sind die zweite große Überraschung des Wahlabends in Polen: 15,4 Prozent der Stimmen sind ebenfalls deutlich mehr, als die Meinungsforschungsinstitute Mentzen vorhergesagt hatten. Zwar war vor einigen Wochen in der polnischen Presse bereits die Rede davon, dass die Rechtsextremen das „Duopol“ der beiden großen polnischen Parteien aufgebrochen hätten. Doch hat Metzen schließlich fünf Prozent mehr geholt, als vielfach erwartet wurde.
Auf Platz vier steht – auch das eine Überraschung – Grzegorz Braun, ehemals Mitglied der Konfederacja. Er erhielt 6,2 Prozent der Stimmen. Braun fällt immer wieder mit Verschwörungstheorien, deutschlandfeindlichen und vor allem antisemitischen Aussagen und auch Taten auf: Im Dezember 2023 machte Braun auch international Schlagzeilen, als er mit einem Feuerlöscher eine Chanukka-Feier im polnischen Parlamentsgebäude angriff. Dazu agitiert er gegen die ukrainische Minderheit in Polen und fällt mit prorussischen Kommentaren auf. Darauf, wie Brauns Anhänger im zweiten Wahlgang abstimmen werden, mag sich in Polen kein Kommentator festlegen.
Was auffällt, ist, dass auf den ersten vier Plätzen Kandidaten rechts der politischen Mitte stehen, darunter zwei Rechtsextremisten und – mit Nawrocki – drei Anti-Europäer oder EU-Skeptiker. Darin besteht die Bedeutung der Wahl für das Ausland. Die großen polnischen Parteien und ihre Kandidaten sind sich einig in ihrer Unterstützung für die Ukraine und darüber, dass Russland robust abgeschreckt werden muss. Nawrocki jedoch dürfte gegen die EU agitieren – und sollte es gar zu Neuwahlen kommen, wäre es kaum denkbar, dass ein Regierungschef der PiS eine konstruktive Europapolitik betreibt. Die PiS lag von 2015 bis 2023 in einem Dauerstreit mit der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).
Der Streit um die polnischen Gerichte, der radikale Justizumbau, hatten das Land in Europa politisch verzwergt. Polen spielte keine Rolle, die seiner Größe, seiner wirtschaftlichen und militärischen Potenziale angemessen war. Mit Nawrocki würde Polen als Partnerland von Deutschland und Frankreich abermals ausfallen. Besonders bitter wäre das also für die neue Bundesregierung von Friedrich Merz. Sie setzt offenbar stark auf Polen als Partner, künftig wohl auch verstärkt in Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Die CDU und die CSU sind, wie die polnische PO und ihr Koalitionspartner PSL in der Europäischen Volkspartei (EVP) organisiert. Merz und Tusk kennen sich und verstehen sich dem Vernehmen nach gut.
Wie sie sich weiter begegnen, hängt wesentlich davon ab, wer in Polen Präsident ist. In zwei Wochen wird Europa wissen, wie sich das große Land im Osten der EU weiter entwickelt.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke