Der israelische Präsident Jitzchak Herzog (64) wird zu einem offiziellen Besuch in Berlin erwartet. Gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will er am Dienstag nach Israel zurückreisen. Die beiden Länder feiern in diesen Tagen ihre Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor 60 Jahren.

WELT: Herr Präsident, wie würden die Gründerväter Deutschlands und Israels, David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, die Beziehungen zwischen unseren Ländern heute beurteilen?

Jitzchak Herzog: Auf dem Foto von Ben-Gurion mit Adenauer bei ihrem historischen Treffen im Waldorf Astoria in New York (im Jahr 1960; d.Red.) ist auch mein Onkel Jakob Herzog zu sehen. Er war ein ranghoher Berater Ben-Gurions und arbeitete speziell am Aufbau von Beziehungen zu Deutschland. Das Foto steht in der Nähe meines Schreibtisches in Jerusalem, weil ich diese Beziehungen als einzigartig und historisch sehr wichtig betrachte. Ich denke, die Gründerväter wären sehr stolz auf das Verhältnis unserer beider Nationen. Nach den Schrecken der Shoah schien es keine Chance zu geben, überhaupt wieder von vorn zu beginnen. Doch die Willenskraft und der Wunsch der Menschen, menschlich zu sein und weiterzumachen, ohne die Vergangenheit zu vergessen, haben uns dahin gebracht, wo wir sind: bei einer blühenden Beziehung in so vielen Facetten des Lebens, bei Generationen von Verbindungen, einem offenen und sehr ehrlichen Dialog, einer sehr engen Verbundenheit und Freundschaft. Übrigens: Der erste Staatsbesuch eines israelischen Präsidenten in Deutschland war 1987 der Besuch meines verstorbenen Vaters Chaim Herzog unter Präsident Richard von Weizsäcker. Ich bin sehr stolz auf den Beitrag meiner Familie zu dieser einzigartigen Beziehung. Und hoffe, das Gleiche zu tun.

WELT: Der neue deutsche Bundeskanzler ist seit ein paar Tagen im Amt. Kennen Sie Friedrich Merz schon persönlich?

Herzog: Zunächst möchte ich dem scheidenden Bundeskanzler Olaf Scholz meinen Dank aussprechen, der während des gesamten Krieges seit dem 7. Oktober große moralische Klarheit bewiesen hat. Friedrich Merz habe ich vor zwei Jahren bei einem Besuch in Deutschland getroffen, ihn nach dem 7. Oktober als Oppositionschef in Israel empfangen, und wir haben auch nach seiner Wahl gesprochen. Er wird in Israel als enger Freund und sehr positiv gesehen, und ich bin mir sicher, dass er auf internationaler Ebene einen großen Einfluss haben wird. Ich wünsche ihm viel Erfolg.

WELT: Was erwarten Sie von der neuen Regierung?

Herzog: Ich hoffe und bin mir sicher, dass es weitergeht wie bisher. Ich weiß, dass es nicht immer einfach ist, dass man manchmal einen offenen Dialog führen muss. Ich freue mich darauf, Friedrich Merz bei meinem Besuch zu treffen und natürlich mit ihm über alle Herausforderungen und Lösungen zu sprechen. Im Moment befinden wir uns in einer sehr heiklen Situation, denn in erster Linie geht es darum, unsere Geiseln nach Hause zu holen, 59 von ihnen. Etwa 21 sind am Leben, bei dreien ist es unklar und die anderen sind tot. Es ist eine riesige Verletzung der Menschenrechte und eine Verletzung jeder Norm des Völkerrechts. Trotzdem sind die große Hoffnung und der große Traum für mich Frieden. Wenn nach der dunkelsten Zeit der Geschichte, nach den schlimmsten Gräueltaten der Nazis an den Juden im Zweiten Weltkrieg, heute 60 Jahre diplomatische Beziehungen mit Deutschland gefeiert werden können – dann gibt mir das Hoffnung, dass wir vom Frieden mit den Palästinensern träumen können. Aber dafür muss es sehr klare Regeln geben. Regel Nummer eins ist: keine Akzeptanz von Terror unter keinen Umständen. Regel Nummer zwei lautet, dass es Würde für alle Völker geben muss und dass wir die Einbindung der Israelis als selbstverständlichen Teil eines neuen Nahen Ostens anstreben müssen. Nummer drei: Wir müssen sicherstellen, dass der Iran nicht in den Besitz einer Atomwaffe gelangt.

WELT: Donald Trump wird diese Woche Saudi-Arabien und andere Golfstaaten besuchen. Betrachten Sie diese Reise mit Sorge oder Hoffnung?

Herzog: Wir respektieren Präsident Trump und wünschen ihm alles Gute für seinen Besuch in der Region. Es ist ein sehr wichtiger Besuch und ich hoffe, er wird positive Veränderungen bringen. Wir warten ab. Was uns am wichtigsten ist, sind natürlich die Verhandlungen mit dem Iran über ein Atomabkommen oder besser gesagt ein Anti-Atom-Abkommen, damit der Iran unter keinen Umständen nukleare Fähigkeiten erreicht. Wenn dazu Militäroperationen erforderlich sind, dann soll das so sein. Aber wir geben dem Dialog eine Chance. Nummer zwei ist die Integration Israels in die Region. Wir haben die Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko geschlossen, die wiederum auf der Grundlage unserer Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien ruhen. Und jetzt können wir weitere wichtige Länder einbeziehen. Für mich wäre es ein Traum, eine Normalisierung mit Saudi-Arabien zu erreichen und dem saudischen Kronprinzen und Premierminister Mohammed bin Salman die Hand zu schütteln. Für mich wäre es ein Traum, wenn Juden und Muslime in dieser Region in Frieden leben können.

WELT: Bundeskanzler Merz sagte, ihm mache die Situation in Israel größte Sorge, er rief aber auch dazu auf, die humanitäre Lage im Gaza-Streifen nicht aus den Augen zu verlieren. Ist seine Kritik aus Ihrer Sicht berechtigt?

Herzog: Ich empfehle jedem, der darüber spricht, sich eingehend mit den Fakten zu befassen. In den letzten anderthalb Jahren haben mein Büro und ich mit verschiedenen Organisationen und Regierungen auf der ganzen Welt bei diesem Thema zusammengearbeitet. Und in vielen Fällen gab es Fake News und falsche Behauptungen, die Teil der psychologischen Kriegsführung der Hamas sind. Die Hamas führt einen großen psychologischen Krieg an vielen Fronten, um ein verzerrtes Bild zu erzeugen, um Regierungen dazu zu bringen, Druck auf Israel auszuüben. Ich empfehle der Bundesregierung, falls nötig, Experten zu entsenden, um die Situation eingehend zu untersuchen. Jetzt, da es einen neuen Plan gibt (für die Verteilung von Hilfsgütern; d. Red.), denke ich, dass die internationale Gemeinschaft sich diesem Plan anschließen und die entsprechenden Lieferungen bereitstellen wird, damit man sie den Menschen in Gaza direkt, ohne Zwischenhändler oder Terroristen, bereitstellen kann.

WELT: Friedrich Merz hat versprochen, Mittel und Wege zu finden, um trotz eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs einen offiziellen Besuch von Premierminister Benjamin Netanjahu in Deutschland zu ermöglichen. Was würde dieser Besuch für Israel bedeuten?

Herzog: Wir glauben, dass sich einige internationale Rechtsorgane im Würgegriff von Aktivisten und Israel-Hassern befinden – entschuldigen Sie bitte die Wortwahl. Ursprünglich sollten sie eine neue Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg schaffen. Stattdessen kuschten sie vor dem Terror, und das ist es, was wir zum Beispiel über den IStGH (Internationaler Strafgerichtshof; d. Red.) denken. Der verstorbene Onkel meiner Mutter war Sir Hersch Lauterpacht, der größte Völkerrechtler seiner Zeit. Er ist einer der Gründerväter des modernen Völkerrechts, einer der Verfasser der Menschenrechtscharta, der Charta der Vereinten Nationen. Und einer der ersten Richter am Internationalen Gerichtshof. Er war ein überzeugter Anhänger Israels und ein Überlebender des Holocaust. Seine Familie wurde im Holocaust ausgelöscht. Er war einer der Ankläger bei den Nürnberger Prozessen. Ich denke oft an ihn. Hatte er einen naiven Blick für die Tatsache, dass die internationale Politik das gesamte Konzept des neuen Rechtssystems nach dem Zweiten Weltkrieg untergraben könnte? Wenn wir es objektiv betrachten, sind das Weltrechtssystem und die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg bedroht, durch Elemente, die die internationale Gemeinschaft in den Abgrund des Terrors führen wollen. Das können wir nur stoppen, wenn wir unnachgiebig sind, einschließlich der Anwendung von Gewalt, was manchmal unangenehm ist, aber wir haben keine Wahl. Wir müssen den Terror bekämpfen.

WELT: Da Sie bald nach Deutschland reisen: Es gibt wachsenden Hass gegen Juden auf den Straßen und an den Universitäten. Tun Bundesregierung und Gesellschaft genug, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen? Was muss verbessert werden?

Herzog: Der Antisemitismus ist die älteste Geißel und immer auf der Lauer. Er ist auch das erste Zeichen einer kommenden Tragödie. Es fängt mit den Juden an, aber hört nie mit den Juden auf. Manchmal tarnt sich der Antisemitismus als Hass auf Israel, aber auch das ist Antisemitismus pur.

WELT: Berlins historischer Bebelplatz, der Ort, an dem 1933 die Nazis die Bücher jüdischer Autoren verbrannten, wurde gerade symbolisch in „Platz der Hamas-Geiseln“ umbenannt. Ich habe letzte Woche an der Eröffnung teilgenommen und mit Enttäuschung festgestellt, dass nur ein paar hundert Menschen anwesend waren und nicht ein paar Tausend. Was können wir im Kampf um Herz und Verstand besser machen?

Herzog: Auch wenn es mühsam ist, müssen wir immer wieder erklären, dass es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, unschuldige Zivilisten aus ihren Betten zu entführen und ihre Familienangehörigen zu ermorden, zu massakrieren und grausam zu behandeln. Wir erhalten nicht einmal aktuelle Informationen über den medizinischen Zustand der Geiseln. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn wir sie nicht alle nach Hause bringen, bleibt das eine Narbe für die Menschheit.

WELT: Was wünschen Sie sich für die nächsten 60 Jahre der deutsch-israelischen Beziehungen?

Herzog: Dass wir die Vergangenheit nie vergessen, aber immer in die Zukunft blicken. Eine Partnerschaft, die sich ständig weiterentwickelt und Grenzen überwindet. Starke Freundschaft, offene Freundschaft, gegenseitiger Respekt – das erfordert die Heranbildung der nächsten Generationen, die Vermittlung der multikulturellen Vielfalt der israelischen Gesellschaft an junge Deutsche und die Vermittlung der Entwicklungen und Veränderungen in der deutschen Gesellschaft an junge Israelis, vor allem in den Bereichen Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte.

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