Gewalttat von Bad Oeynhausen – Staatsanwaltschaft fordert neun Jahre Haft
Im sogenannten Kurpark-Prozess um den gewaltsamen Tod von Philipos Tsanis verlangt die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung nahe der möglichen Höchststrafe nach Jugendstrafrecht: Gefordert wird nach Angaben von Prozessbeteiligten, den Angeklagten Mwafak al-S. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge nach Jugendstrafrecht zu einer Haftstrafe von neun Jahren zu verurteilen. Das ist nahe der Höchststrafe von zehn Jahren, für die es allerdings hohe Hürden gibt. Der Angeklagte war zur Tatzeit 18 Jahre alt.
Die Verteidigung plädierte auf eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und eine Verwarnung – und damit auf eine Freilassung des Angeklagten nach der für Freitag geplanten Urteilsverkündung.
In dem Prozess vor dem Landgericht Bielefeld geht es um den gewaltsamen Tod von Philipos Tsanis. Der 20-Jährige hatte im Juni 2024 im Kurpark von Bad Oeynhausen den Abiball seiner Schwester besucht und war so schwer zusammengeschlagen worden, dass er zwei Tage später starb. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hat Mwafak al-S. nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung auf Philipos eingeschlagen, ihn dann verfolgt, zu Fall gebracht und am Boden auf ihn eingetreten. Anschließend habe er dem bewusstlosen Opfer dessen Umhängetasche geraubt, in dem er fälschlicherweise Kokain vermutet habe. Al-S. gibt zu, Philipos geschlagen, verfolgt und dessen Tasche gestohlen zu haben – allerdings sei Philipos von allein gestürzt. Er habe ihn danach auch nicht weiter angegriffen.
Der Fall hatte im vergangenen Jahr Wellen geschlagen und die Debatte über Migration angeheizt. Der Angeklagte al-S. war 2016 als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Seine Familie war wegen des Bürgerkriegs zunächst aus Syrien nach Jordanien geflüchtet. Der Vater schaffte es nach Deutschland, al-S. flog später im Zuge einer Familienzusammenführung von Jordanien nach Frankfurt. Die Familie lebte zunächst sieben Jahre lang in Pforzheim, zog dann Ende 2023 nach Bad Oeynhausen. Wenige Monate später wurde Philipos Tsanis totgetreten und Mwafak al-S. festgenommen.
Am 17. Tag des seit Dezember laufenden Prozesses wurden nun die Plädoyers gehalten – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Bei einem vorherigen Verhandlungstag war die Öffentlichkeit für Teile der Aussage einer minderjährigen Zeugin ausgeschlossen worden, weil der Inhalt aus Sicht der Kammer deren höchstpersönlichen Lebensbereich betraf. Zwar hatte die Aussage keinerlei Relevanz für den Fall selbst und die Verteidigung hatte angekündigt, sie daher im Plädoyer nicht zu erwähnen. In einem solchen Fall sieht die Strafprozessordnung allerdings grundsätzlich vor, dass auch für die Plädoyers weder Zuschauer noch Presse zugelassen werden.
Die Verteidigung hofft nun, dass al-S. das Gericht am Ende des nächsten und letzten Prozesstages als freier Mann verlassen darf. Die Urteilsverkündung ist für Freitag, 12 Uhr angesetzt.
„Er hat ganz klar gesagt, er hätte Fehler gemacht“, so Strafverteidiger Burkhard Benecken nach den Plädoyers im Foyer des Gerichtsgebäudes gegenüber Reportern. Sein Mandant habe Philipos zwar geschlagen, aber nicht, wie von der Staatsanwaltschaft behauptet, später auf ihn eingetreten. Er sei nicht für den Tod von Philipos Tsanis verantwortlich. Benecken plädiert daher auf Freispruch vom Vorwurf des Totschlags.
Würde Mwafak al-S. nur wegen Körperverletzung verurteilt werden, so Benecken weiter, hätte er durch die Untersuchungshaft bereits „eine sehr harte Strafe (...) vorab bekommen“. Al-S. war kurz nach der Tat festgenommen worden und sitzt seitdem in der JVA Herford. „Deshalb haben wir beantragt, dass er verwarnt wird und dass die neun Monate angerechnet werden und er dann am Freitag mit einer Aufhebung des Haftbefehls nach Hause gehen kann.“
Zur Begründung verweist Benecken unter anderem auf das Aussageverhalten der Zeugen. Tatsächlich waren viele Zeugen in diesem Prozess durch unkooperatives Verhalten, lückenhafte Aussagen und teils durch Lügen aufgefallen. Mehrfach hatte das zu Wutausbrüchen seitens des Vorsitzenden Richters Carsten Glashörster geführt. Benecken sieht die Zeugenaussagen als „eine einzige Katastrophe“. Es sei bei den Betreffenden „keinerlei Respekt“ vor der Justiz erkennbar gewesen. Das sei „eine Entwicklung“, die er „abenteuerlich“ finde.
Zudem habe die Staatsanwaltschaft „nach dem Grundsatz im Zweifel gegen den Angeklagten argumentiert“. Es sei zum Nachteil seines Mandanten „gemutmaßt“ worden. Auf einem erst vor einigen Wochen von einem beschlagnahmten Handy wiederhergestellten Video war zu sehen gewesen, wie al-S. Philipos verfolgt und ihm später, als er bereits am Boden liegt, seine Tasche entwendet. Allerdings schwenkt die Aufnahme dazwischen weg. Die entscheidenden Sekunden, in denen al-S. auf Philipos eingetreten haben soll, sind nicht zu sehen.
Mehrere Zeugen jedoch haben ausgesagt, sie hätten die Tritte gesehen – darunter auch eine der wenigen Zeuginnen, die Richter Glashörster als so kooperativ einschätzte, dass er sich explizit für ihre Aussage bedankte.
Benecken führt einen weiteren Clip an, der noch nach dem bereits erwähnten Video aufgetaucht war. Darin ist zu sehen, wie ein 18-jähriger Deutscher, der im Prozess als Zeuge aufgetreten war, den bereits bewusstlos und blutend am Boden liegenden Philipos aus nächster Nähe filmt und wüst beleidigt. Man könne „keinesfalls ausschließen“, so Benecken, dass nicht sein Mandant, sondern der Filmende oder jemand ganz anderes auf Philipos eingetreten habe.
Es ist eine von mehreren unscharfen Stellen, die für das Urteil eine Rolle spielen dürften. Auch ist unklar, wodurch genau die beiden tödlichen Schädelbrüche verursacht wurden, die bei Philipos Tsanis festgestellt wurden, und in welcher Reihenfolge. Womöglich, hatte der Vorsitzende Richter an einem vorherigen Prozesstag gesagt, müsse man nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ davon ausgehen, dass bereits der Sturz tödlich war. In diesem Fall käme es darauf an, ob die Kammer davon ausgeht, dass al-S. Philipos zu Fall gebracht hat oder dass dieser von allein gestürzt ist.
Staatsanwalt Mackel lehnte nach Sitzungsende einen Kommentar zu seinem Plädoyer ab. Mit dem Vortragen der Schlussvorträge ist die Beweisaufnahme abgeschlossen.
Jugendstrafhilfe trägt Bericht über Hauptangeklagten vor
Vor den Plädoyers – im noch öffentlichen Teil des Verhandlungstages – stand als letzter Punkt ein Bericht der Jugendgerichtshilfe über al-S. an. Eine Mitarbeiterin hatte in der Untersuchungshaft über Monate mehrere Gespräche mit dem Angeklagten geführt. Die Haft sei für al-S. eine Ausnahmesituation gewesen, die anfangs schwer zu verarbeiten gewesen sei, habe er ihr gesagt. Der Kontakt zu seiner Familie, die ihn gelegentlich in der JVA besuchen darf, sei in dieser Zeit „lebenserhaltend“ gewesen.
Er habe zudem über seine Biografie gesprochen, über die „Angst vor dem Krieg“ etwa und über das Gefühl der Entwurzelung, als die Familie nach sieben Jahren in Pforzheim nach Bad Oeynhausen umzog. Dort habe man Verwandtschaft gehabt und sich bessere Chancen auf Schulabschlüsse für die Kinder ausgerechnet. Rückblickend sei der Umzug nach Nordrhein-Westfalen aus Sicht der Familie jedoch ein Fehler gewesen. Man habe sich dort „einsam und isoliert“ gefühlt. Insgesamt, so die Einschätzung der Jugendgerichtshilfe, sei der Lebensweg von al-S. nicht vergleichbar mit dem Lebensweg Gleichaltriger in Deutschland. Man empfehle daher die Anwendung von Jugend- statt Erwachsenenstrafrecht.
Al-S. selbst habe sich in den Gesprächen als ruhigen Typen beschrieben, der zwar manchmal aufbrausend sei, dann aber nicht handgreiflich werde. Das passt nicht vollständig zur Akte von al-S., der schon vor dem aktuellen Fall mehrfach aktenkundig geworden war, unter anderem wegen schweren räuberischen Diebstahls. Der sich auch ab und an prügelte und danach in Chats mit Freunden Sätze schrieb wie „Ich ficke seine Toten, Digger“.
Die Nachfrage der Staatsanwaltschaft, ob auch über die Tat oder vorherige Taten gesprochen worden sei, verneinte die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe. Auf die Frage, welche drei Wünsche er habe, habe al-S. ihr geantwortet: Seinen verstorbenen Großvater noch einmal sehen, umziehen und sein früheres Leben wiederhaben.
Nachrichtenredakteur Florian Sädler schreibt bei WELT vor allem über politische Themen, darunter Migration, Extremismus und Russlands Krieg gegen die Ukraine. Nach Philipos‘ Tod berichtete er aus Bad Oeynhausen, inzwischen begleitet er den Gerichtsprozess.
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