Seit 2019 ist Gitanas Nauseda Präsident Litauens. Der parteilose Konservative hat Karriere im privaten wie im staatlichen Sektor gemacht, als Wirtschaftsfachmann war er für mehrere Banken tätig. Zudem war der heute 60-Jährige Professor an der Universität Vilnius.

WELT: Herr Präsident, Sie unterhalten eine enge Beziehung zu Deutschland: Sie haben in Deutschland studiert, sprechen Deutsch. Die politischen Entwicklungen in Berlin verfolgen Sie daher umso enger; in der deutschen Hauptstadt haben Sie gute Kontakte. Mit welchen Erwartungen und vielleicht auch Hoffnungen blicken Sie auf die Amtsübernahme durch Friedrich Merz?

Gitanas Nauseda: Ich freue mich darüber, dass Sie mich an meine Zeit in Deutschland erinnern. Es war eine sehr schöne Zeit, ich habe in Mannheim studiert. Später, 1994, habe ich sechs Monate im Bundestag verbracht, damals noch in Bonn. Es war eine fantastische Zeit, in der ich viele deutsche Politiker kennengelernt und interessante Einblicke gewonnen habe. Das deutsche Volk habe ich damals wirklich kennengelernt. Umso mehr freue ich mich nun auf die Zusammenarbeit mit dem künftigen Kanzler Friedrich Merz. Ich bin überzeugt, dass wir unsere politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen weiter ausbauen werden.

WELT: Litauen, an der Ostflanke der Nato gelegen, grenzt an Russland und Belarus. Sicherheit steht für Ihr Land traditionell an erster Stelle. Deutschland entsendet nun eine voll einsatzfähige Brigade – 5000 Männer und Frauen – nach Litauen.

Nauseda: Das Wichtigste für uns ist es, eine „Mauer der Abschreckung“ zu errichten. Dabei ist das Engagement unserer Nato-Verbündeten uns natürlich sehr willkommen. In diesem Zusammenhang möchte ich das Engagement von Noch-Kanzler Olaf Scholz hervorheben. Unter ihm hat Deutschland immerhin begonnen, seine militärische Präsenz bei uns auszubauen. Die Entscheidung dazu wurde 2022 gefällt. Sogar noch vor dem Nato-Gipfel in Madrid kam Scholz nach Vilnius, um ein entsprechendes Memorandum zu unterzeichnen. Natürlich sind auch die Bemühungen von Boris Pistorius sehr wichtig, der nun Verteidigungsminister bleibt. Alles wird auf den Weg gebracht, wir haben konkrete Pläne und Vereinbarungen, wir sind uns zum Beispiel einig darüber, was für Infrastruktur für die deutschen Soldaten errichtet wird. Bis 2027 wird eine komplette deutsche Brigade nach Litauen verlegt und dauerhaft hier stationiert sein. Ich bin zuversichtlich, dass die neue deutsche Regierung diesen Zeitplan mit uns einhält.

WELT: Sicherheit und Verteidigung werden zentrale Themen der Regierung Merz. Noch der alte Bundestag hat für eine Reform der sogenannten Schuldenbremse gestimmt. Damit kann Deutschland praktisch unbegrenzt in Verteidigung investieren. Wie bewerten Sie das?

Nauseda: Das ist sehr wichtig. Wir müssen hinsichtlich der Entwicklung unserer militärischen Fähigkeiten doch auf derselben Seite sein. Ich will betonen: Litauen zählt zu den ambitioniertesten Nato-Ländern. Wir haben kürzlich entschieden, fünf bis sechs Prozent unserer Wirtschaftsleistung von 2026 bis 2030 für Verteidigung aufzubringen. Das hat natürlich auch etwas mit der Aufstellung der deutschen Brigade zu tun, für uns sind das ebenfalls Kosten. Hinzu kommt die Verstärkung unserer eigenen Streitkräfte. Noch mal: Wir wissen, was zu tun ist und wir schätzen die Anstrengungen unserer Partner, vor allem die Deutschlands, sehr. Es ist gut, dass die künftige Bundesregierung mehr Geld in die Hand nehmen wird, um die Armee zu stärken – für Deutschland und Litauen und für Europa insgesamt.

WELT: Das deutsche Rüstungsunternehmen Rheinmetall ist bereits in Litauen aktiv, errichtet dort eine Munitionsfabrik. Erwarten Sie unter der neuen Bundesregierung weitere Investitionen der deutschen Rüstungsindustrie in Litauen?

Nauseda: Allgemein ist Deutschland bei den Direktinvestitionen schon die Nummer eins. Continental und Allianz sind vor Ort; im Dezember vergangenen Jahres erst hat die Commerzbank ihre neue Repräsentanz in Vilnius eröffnet. Die Vereinbarung mit Rheinmetall ist ein echter Meilenstein. Ich hoffe, dass die Munitionsproduktion bis 2026, wie geplant, anlaufen kann. Wir arbeiten sehr gut mit Rheinmetall zusammen und unsere Behörden stellen gerade unter Beweis, dass sie schnell und gründlich sind. In Litauen zu investieren, lohnt sich also. Weitere Investitionen der deutschen Rüstungsindustrie würden wir bei uns willkommen heißen.

WELT: Sie waren und sind kein Parteipolitiker, gelten jedoch als konservativ. Ist jemand wie Friedrich Merz Ihnen daher näher als der Sozialdemokrat Olaf Scholz?

Nauseda: Es ist ganz einfach: Wenn der künftige Kanzler Merz und die Bundesregierung der Sicherheitspolitik eine Priorität einräumen und die Bundesregierung alles dafür tut, um die Rüstungsindustrie in Deutschland und Europa zu stärken, dann verstehen wir uns. Ich unterstütze voll und ganz, was Friedrich Merz schon mehrfach öffentlich gesagt hat: nämlich dass wir Europäer unsere Sicherheit ernst nehmen müssen – insbesondere vor dem Hintergrund dessen, was in den USA geschieht. Das führt uns zu der Einsicht – da stimme ich mit Merz überein –, dass wir uns selbst um unsere Sicherheit kümmern müssen. Ich freue mich darüber, mit ihm zusammenarbeiten und ich freue mich darauf, ihn in Litauen zu begrüßen. Ich weiß, dass er vorhat, anlässlich der Indienststellung der deutschen Brigade nach Vilnius zu kommen. Es wäre gut, bei dieser Gelegenheit nicht nur sicherheitsrelevante Themen mit ihm zu besprechen, sondern auch wirtschaftspolitische. Und natürlich müssen wir uns auch hinsichtlich der Entwicklungen in der Ukraine austauschen.

WELT: Andere Großthemen für die neue Bundesregierung werden neben Sicherheit und Verteidigung Migration und die Wirtschaft sein. Wie können wir Europäer wieder in eine Wachstumsphase eintreten?

Nauseda: Es ist sehr wichtig, dass die Wirtschaft wächst. Ohne Wachstum können wir zum Beispiel unsere so wichtigen Investitionen im Verteidigungssektor nicht vornehmen. Die litauische Wirtschaft steht gut da, das liegt an unserer Exportorientierung, aber auch an unserer Hochtechnologieindustrie. Die vergangenen Jahre hat sich unsere Wirtschaft stark entwickelt: Laserfertigung, Biotechnologie und Finanztechnologie, dazu E-Government-Angebote. All das trägt zu unserem Wachstum bei. Ja, ich weiß, dass es woanders in Europa schwieriger ist. Wir brauchen daher Deregulierung, Investitionen müssen schneller Effekte haben. Ich setze darauf, dass gerade auch Investitionen in Rüstung zu Wachstum in Europa beitragen werden. Was EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt hat, stimmt mich optimistisch: dass 150 Milliarden Euro direkt in die Rüstungsindustrie gesteckt werden und dass die bekannten Schuldengrenzen für Verteidigung nicht mehr gelten.

WELT: Im Sommer 2021 wurden aus dem benachbarten Belarus Migranten –vorwiegend aus dem Nahen Osten – nach Litauen getrieben. Der Schwerpunkt dieses Geschehens hat sich nach Polen verlagert, doch auch an der litauisch-belarussischen Grenze steigen die Zahlen der Grenzübertritte immer wieder an. Litauen reagiert entschlossen darauf, teilweise sogar mit Pushbacks gegen Migranten. CDU-Politiker haben angekündigt, dass die Merz-Regierung vom ersten Tag an eine härtere Migrationspolitik betreiben wird. Schwenkt Berlin damit auf einen Kurs ein, der in Europa längst Mainstream ist?

Nauseda: Wir müssen das Thema Migration in den Griff bekommen. Andernfalls werden unsere Gesellschaften destabilisiert und extremistische Parteien gewinnen an Zuspruch. Das würde ich gern vermeiden. Sie haben es angesprochen, mein Land hat ebenfalls mit dem Phänomen illegaler Migration zu tun, wenn auch in einer anderen Form. Es ist „instrumentalisierte Migration“ aus Belarus. Gerade erleben wir wieder einen Anstieg illegaler Migration. Ja, wir führen Pushbacks durch und andere Maßnahmen, um die Lage zu stabilisieren, die mit der in Lettland und Polen vergleichbar ist. Es ist wichtig, Instrumente zu finden und Maßnahmen zu ergreifen, um auf diese spezielle Form illegaler Migration zu reagieren.

WELT: Das Stichwort ist „Migration als Waffe“. Es ist eine Form „hybrider Kriegsführung“, aber nicht die einzige, mit der die Länder an der Nato-Ostflanke es zu tun haben. Dazu kommt die ständige Gefahr eines konventionellen Angriffs – aufgrund der Suwalki-Lücke, dem kurzen Landstreifen zwischen Belarus und der Exklave Kaliningrad, an dem Litauen liegt, sprechen Nato-Planer von der „Schwachstelle“ des Bündnisses. Erwarten Sie vor diesem Hintergrund mehr Hilfe von Ihren Bündnispartnern?

Nauseda: Wenn ich Ihnen widersprechen darf, wir sind keine „Schwachstelle“, wir sind stark. Die Suwalki-Lücke ist ein Fakt, aber wir unternehmen enorme Anstrengungen, um dieses Territorium abzusichern, besonders in Zusammenarbeit mit unserem südlichen Nachbarn Polen. Es gibt gemeinsame Übungen, übrigens auch in Rudninkai. Ein Großteil der deutschen Brigade, etwa achtzig Prozent, wird dorthin verlegt und dort trainieren, der Rest kommt nach Rukla, weiter nördlich. In diesem Zusammenhang werde ich Ihnen sagen, was ich auch schon Kanzler Scholz gesagt habe: Ich möchte, dass die deutschen Soldaten sich bei uns wohler fühlen als in ihrer Heimat. Deswegen arbeiten wir so hart daran, dass dieses Projekt ein Erfolg wird. Wir sind in der Lage, die besten Bedingungen für die deutsche Brigade zu schaffen.

WELT: Was soll gegen die „hybride Kriegsführung“ getan werden?

Nauseda: Hinsichtlich der „hybriden Kriegsführung“ haben Sie recht. Sabotage ist ein Problem. Aber unsere Sicherheitsdienste sind wachsam und versuchen, so was zu verhindern. Soweit wir wissen, hat Russland vor, diese Aktivitäten in Zukunft zu intensivieren. Die Russen begreifen das als Element der Destabilisierung westlicher Gesellschaften. Wir wissen darum.

Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.

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