„Sobald der Iran angegriffen wird, wird er zurückschlagen – und dann ist alles möglich“
In den USA gilt Mohsen Milani als einer der führenden Iran-Analysten. Der Politikwissenschaftler lehrt an der University of South Florida und leitet dort das Center for Strategic and Diplomatic Studies, das er mitbegründet hat. Milani beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der außenpolitischen Strategie der Islamischen Republik und wird vom US-Kongress als Experte dazu befragt.
Seit Wochen führen die USA und der Iran Gespräche über ein neues Atomabkommen, am Wochenende steht die nächste Runde an. US-Präsident Donald Trump hat Teheran für den Fall eines Scheiterns mit einem militärischen Vorgehen gedroht. In seinem im Januar erschienenen Buch „Iran's Rise and Its Geostrategic Rivalry With the US in the Middle East“ analysiert Milani die Regionalmacht Iran und ihre geostrategischen Ziele.
WELT: Professor Milani, in Ihrem neuesten Buch beschreiben Sie, wie Irans regionaler Aufstieg mit einem Netzwerk von Partnern und Stellvertretern verbunden war, der sogenannten Achse des Widerstands. Heute ist diese Achse weitgehend zerbrochen. Wie ändert das die iranische Außenpolitik?
Mohsen Milani: Trotz der Rückschläge, die Irans Verbündete im Nahen Osten hinnehmen mussten, stärkt das Land seine regionale Position weiterhin – vor allem durch große Fortschritte bei der Urananreicherung und zunehmend über diplomatische Kanäle, darunter die Verstärkung der Beziehungen zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine engere Zusammenarbeit mit Russland und deutlich vertiefte Wirtschaftsbeziehungen zu China. Die Islamische Republik scheint eine Doppelstrategie zu verfolgen: Einerseits die Verteidigung dessen, was von der Achse übrig geblieben ist. Andererseits zunehmend auf Diplomatie und wirtschaftliche Reintegration zu setzen.
WELT: Wie kam es dazu?
Milani: Der Strategiewechsel erfolgte nach den Rückschlägen im Libanon, in Syrien und im Gaza-Streifen seit dem 7. Oktober 2023. Meiner Meinung nach ist das, was mit der Hamas in Gaza geschieht, am unwichtigsten für den Iran. Die Hamas war für den Iran der unwichtigste Teil seiner Achse – und der problematischste. Die Hamas ist der palästinensische Arm der sunnitischen Muslimbruderschaft, die ein schwieriges Verhältnis zur Islamischen Republik hat. Alle anderen Mitglieder der Achse sind dagegen Schiiten, so wie der Iran. Der zweite Rückschlag war der Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. An seine Stelle traten islamistische Dschihadisten, die erklärte Feinde des Iran sind. Und schließlich war der verheerendste Rückschlag für den Iran die signifikante Schwächung der militärischen Kapazitäten der Hisbollah im Libanon.
WELT: Für die Versorgung der Hisbollah war Syrien unter Assad der logistische und strategische Korridor. Die neuen Machthaber in Damaskus stehen nun aber in offener Feindschaft zur Islamischen Republik. Welchen Einfluss wird der Iran in Syrien realistischerweise behalten?
Milani: Der Iran wird seine alte Position in Syrien nicht halten können. Das ist vorbei. Dennoch möchte er wieder einen begrenzten politischen Einfluss aufbauen, potenziell durch Soft-Power-Kanäle und über Kontaktaufnahme mit personellen Überresten in den syrischen Institutionen. Der Iran hat drei Jahrzehnte in Beziehungen zum syrischen Geheimdienst und Militär investiert. So etwas verschwindet nicht so schnell.
WELT: Welche Kanäle hat der Iran im neuen Syrien noch?
Milani: Die Islamische Republik hat über die Jahrzehnte viele Milliarden in Syrien investiert, unter anderem in den Aufbau religiöser Schulen für die in Syrien lebenden Schiiten. Teheran hofft, einen Teil davon behalten zu können. Es gibt natürlich auch die syrischen Alawiten. Der Iran ist immer noch in der Lage, einige seiner Stellvertreter in Syrien wiederzubeleben, vor allem in der syrischen Küstenregion, wo ein großer Teil der Alawiten lebt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Teheran auch den politischen Willen dazu hat. Strategisch war der Sturz Assads für den Iran so folgenschwer wie der Sturz des iranischen Schahs 1979 für die USA: Syrien war einer der wichtigsten Pfeiler der regionalen Allianz des Iran.
WELT: In dieser geschwächten Allianz geht es den Huthis noch am besten. Erfolgreich spielen sie seit Jahren eine destabilisierende Rolle am Roten Meer. Gleichzeitig wächst der Druck der USA. Welche strategischen Ziele verfolgt der Iran an dieser Front?
Milani: Von allen regionalen Investitionen des Irans haben die Huthis die höchste Dividende gebracht. Der Iran hat im Jemen weit weniger Geld ausgegeben als im Irak, in Syrien, im Libanon oder im Gaza-Streifen. Vielleicht zur Überraschung Teherans erwiesen sich die Huthis als widerstandsfähiger und autonomer als andere Mitglieder der Achse. Obwohl das iranische Engagement im Jemen begrenzt und oft indirekt war, ist es dem Iran gelungen, einen – wenn auch bescheidenen – Fuß auf die arabische Halbinsel zu bekommen. Die iranische Unterstützung für die Huthis ist ein wichtiger Teil der Strategie Teherans, Saudi-Arabien in einer Region zu schwächen, die die Saudis als entscheidend für ihre Sicherheit ansehen. Irans Unterstützung spielte eine Schlüsselrolle dabei, Saudi-Arabien daran zu hindern, den Bürgerkrieg im Jemen zu gewinnen.
WELT: Sie haben die These aufgestellt, dass der Iran auf diplomatische Annäherung an Saudi-Arabien setzt. Steht das nicht im Widerspruch zur Unterstützung der Huthis im Jemen, die ja selbsterklärte Feinde der Saudis sind?
Milani: Es ist wichtig zu betonen, dass die Huthis keine Marionetten des Iran im herkömmlichen Sinne sind – sie verfügen über lokale Legitimität und erhebliche lokale Unterstützung. Dennoch kann der Iran bedeutenden Druck auf sie ausüben. Angesichts der allgemeinen Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien hat Teheran nun ein Interesse daran, seinen Einfluss zu nutzen, um die Huthis zu einem dauerhaften Waffenstillstand zu bewegen.
WELT: Kommen wir zum Gaza-Streifen, wo der Wandel in der gesamten Region begann. Die iranische Unterstützung für Milizen wie die Hamas und den Islamischen Dschihad war symbolisch von zentraler Bedeutung für den iranischen Einfluss in der arabischen Welt. Was bleibt von Irans Palästina-Strategie nach der Schwächung der Hamas?
Milani: Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober war ein Akt des Terrorismus und eine gewaltige Fehleinschätzung, die sowohl die Hamas als auch den Iran geschwächt hat. Der Iran hatte möglicherweise allgemeine Kenntnis von dem Anschlag, aber bisher gibt es keine Beweise dafür, dass er über den genauen Plan, den Zeitpunkt oder die Durchführung informiert war. Nach anderthalb Jahren Krieg ist die Führungsstruktur der Hamas zerrüttet, ihre operative Fähigkeit stark beeinträchtigt. Dennoch glaube ich, dass der Iran der palästinensischen Sache ideologisch verbunden bleibt.
WELT: Weil Palästina eine zentrale Rolle in der Ideologie der Islamischen Republik spielt?
Milani: In meinem Buch über den Aufstieg des Iran – geschrieben vor der Ermordung von Hassan Nasrallah und dem Sturz des Assad-Regimes – argumentierte ich, vielleicht vorausschauend, dass der Aufstieg des Iran letztlich nicht nachhaltig sein würde. Die Ambitionen des Iran, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Nahen Osten zu untergraben, waren letztlich unrealistisch. Der Wunsch der Islamischen Republik, den Staat Israel zu vernichten, ist nicht nur moralisch und politisch inakzeptabel, sondern auch unrealistisch und ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und diplomatische Normen. Dieser Wunsch diente nicht den nationalen Interessen Irans, sondern den ideologischen Interessen der Islamischen Republik. Irans oberster Führer Ali Chamenei hat wiederholt erklärt, dass die Unterstützung der Palästinenser aus seiner Sicht eine religiöse und moralische Verantwortung sei. Da die Außenpolitik der Islamischen Republik stark von religiösen und ideologischen Verpflichtungen geprägt ist, hat sie zeitweise eine Politik verfolgt, die den nationalen Interessen des Iran selbst geschadet hat.
WELT: In Ihrem Buch schreiben Sie: Der Wendepunkt eines Imperiums tritt dann ein, wenn es seine Macht überstreckt.
Milani: Genau. Es gibt mehrere Gründe, warum der Aufstieg des Iran nicht nachhaltig war. Dieser Aufstieg beruhte auf nichtstaatlichen Akteuren in einer Welt, die von mächtigen Staaten dominiert wird. Überdies hat der Iran, selbst unter strengen internationalen Sanktionen, Milliarden von Dollar für sein Netzwerk ausgegeben. Im Gegenzug er nur eine vorübergehende Sicherheit erhalten, die nun stark untergraben ist. Es ist höchste Zeit, dass der Iran seine Regionalpolitik überdenkt und neu ausrichtet. Je früher dies geschieht, desto besser – nicht nur für den Iran, sondern für die Stabilität der gesamten Region.
WELT: Irans Einfluss in der Region wurde durch die Lockerung der Sanktionen nach dem Atomabkommen von 2015 begünstigt. Was erhofft sich Teheran in der aktuellen Verhandlungsrunde?
Milani: Die Prioritäten der Islamischen Republik sind die Vermeidung eines Militärschlags, die Aufhebung der Sanktionen und die Anerkennung als regionale Macht, aber derzeit verhandelt der Iran nur über die Atomfrage. Fragen wie die iranischen Drohnen- und Raketenprogramme oder die regionalen Aktivitäten des Iran sind aktuell kein Gegenstand von Verhandlungen. Teheran will eine Art Garantie, dass die USA und ihre Verbündeten nicht unmittelbar nach einem Atomabkommen einen Regimewechsel anstreben oder dass Israel die iranischen Atomanlagen angreift. Der Iran lehnt die Forderung der USA nach einer Einstellung der Urananreicherung ab. George Bush stellte diese maximale Forderung bereits Anfang der 1990er-Jahre. Selbst damals war sie nicht verhandelbar.
WELT: Sind Sie trotzdem optimistisch?
Milani: Ich bin optimistisch, sehr vorsichtig optimistisch. Ich kann mich irren, aber ich glaube nicht, dass Präsident Trump einen Krieg will. Der Iran auch nicht. So etwas wie einen begrenzten Militärschlag gegen den Iran kann es nicht geben. Der Iran ist geschwächt, aber nicht wehrlos geworden. Sobald der Iran angegriffen wird, wird er zurückschlagen – und dann ist alles möglich. Das wollen weder der Iran noch Präsident Trump. Richard Nixon profilierte sich jahrelang als Antikommunist, um am Ende nach Peking zu reisen und eine Annäherung an China einzuleiten. Heute kommt Präsident Trump vom rechten Flügel der Republikaner. Niemand wird es wagen, Trumps Entscheidung infrage zu stellen, sollte er ein Abkommen mit der Islamischen Republik unterzeichnen. Wir stehen am Anfang eines komplexen Verhandlungsprozesses, der zweifellos viele Höhen und Tiefen mit sich bringen wird. Hoffen wir das Beste und geben wir der Diplomatie und dem Frieden eine echte Chance.
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