Es gibt einen Weg gegen die Schuldenkrise – Aber die Franzosen wollen ihn nicht hören
Ein Weihnachtswunder, das hätte es gebraucht, damit Frankreich das neue Jahr mit einem Sparhaushalt hätte beginnen können. Es entfaltete sich nicht. Der Vermittlungsausschuss von Nationalversammlung und Senat hätte es am Freitag vor Weihnachten theoretisch noch schaffen können, ging aber praktisch schon nach 45 Minuten ergebnislos zu Ende.
Weitere Gespräche von Regierungschef Sébastien Lecornu am 23. Dezember, bei denen er allen Parteichefs – zum wievielten Mal wohl? – die dramatische Lage vor Augen zu führen versuchte, endeten ebenso ergebnislos. Und ohnehin waren da schon die Fristen verstrichen. Frankreich beginnt das neue Jahr also per Notgesetz auf der Grundlage der Budgetplanung für das vorangegangene.
Diese Sonderregelung macht es möglich, weiter Steuern einzuziehen, Kredite aufzunehmen und Beamte zu bezahlen. Den Franzosen wird der „Shutdown“ nach amerikanischem Vorbild somit erspart. Doch es ist bereits das zweite Mal in Folge, dass Frankreich ohne regulären Haushalt in das neue Jahr geht.
„Ein fatales Signal“, urteilt die Verfassungsrechtlerin Anne-Charlène Bezzina im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Und dieses katastrophale Signal versenden wir in Wahrheit seit anderthalb Jahren, seit der Auflösung der Nationalversammlung“, so die Expertin. „Es bestätigt den Eindruck einer parlamentarischen Blockade und politischer Entscheidungsunfähigkeit. Unsere europäischen Nachbarn haben sich meines Erachtens inzwischen daran gewöhnt, dass Frankreich die Versprechen der V. Republik nicht mehr hält, weder die der parlamentarischen noch die der finanziellen Stabilität. Dass wir am 31. Dezember keinen Haushalt haben, ist der letzte Sargnagel für die V. Republik.“
Haben sich die Nachbarn tatsächlich daran gewöhnt? Geht nicht vielmehr die Angst um, Frankreich, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union, könne Deutschland mit hinunterziehen? Frankreichs Schulden sind seit dem Jahr 2020 in die Höhe geschossen. Die Drei-Billionen-Marke wurde im ersten Quartal 2023 geknackt. Ende des dritten Quartals lag die Staatsverschuldung bei 3,48 Billionen Euro und damit bei rund 117 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP).
In absoluten Zahlen hat Frankreich die höchste Verschuldung der Europäischen Union. Das Haushaltsdefizit ist fast doppelt so hoch, wie es die Maastricht-Kriterien vorsehen. Bis 2030, so die Prognose des Internationalen Währungsfonds, könnten die Schulden auf mehr als 128 Prozent der Wirtschaftsleistung anwachsen.
Zinsen statt Zukunft
Für die Zahlung der Schuldzinsen hat Paris im vergangenen Jahr 66 Milliarden Euro aufbringen müssen, mehr als für die Schulbildung. Der Betrag, so die erschütternde Prognose des französischen Rechnungshofes, könnte bis 2029 auf 107 Milliarden Euro steigen und wäre dann der größte Haushaltsposten, warnt der Rechnungshof. Statt in die Zukunft zu investieren, wird Frankreich vor allem Zinsen zahlen.
Die Versprechen gegenüber Brüssel, dass man alles in den Griff bekommen und das Defizit bis 2029 auf 2,8 Prozent herunterfahren werde, wirken angesichts der politischen Dauerkrise unglaubwürdig. Das Parlament ist in drei gleichstarke Blöcke gespalten, die Extremisten von rechts und von links treiben die vernünftige Mitte vor sich her, und angesichts der anstehenden Kommunalwahlen Mitte März und der Präsidentschaftswahlen im Mai 2027 ist niemand gewillt, die Wahrheit auszusprechen: Dass es so nicht weitergehen kann.
Dass es weder genügt, Besserverdiener oder Reiche stärker zu besteuern, wie die Linke es fordert, noch dass es allein mit einer strengeren Einwanderungspolitik oder gar weniger EU-Beiträgen getan wäre, wie Marine Le Pens Rassemblement National (RN) behauptet. Der Staat muss seine Ausgaben radikal kürzen.
Roland Lescure, Frankreichs Superminister für Finanzen, Wirtschaft und Industrie, machte jetzt die Ansage, dass das Defizit nächstes Jahr unter fünf Prozent bleiben muss. Es sei Aufgabe des Parlaments, sagt Lescure, dafür zu sorgen. Auch Premierminister Sébastien Lecornu bekräftigte dieses Ziel. Verfassungsrechtlerin Bezzina rechnet indes mit einer „Ermüdungserscheinung“ des Parlaments und der Forderung der Parlamentarier nach dem Einsatz des eigentlich verhassten Verfassungsparagrafen 49.3.
Lecornu hatte bei Amtsantritt versprochen, auf diese Verfassungskrücke zu verzichten, mit deren Hilfe der Haushalt ohne Abstimmung gewissermaßen verordnet werden kann, aber der Ruf danach wird lauter. „Die Voraussetzungen, dass 290 Abgeordnete für einen Haushalt stimmen, sind einfach nicht gegeben“, so Bezzina.
Mit welcher Methode und wann Frankreich wirklich einen Haushalt für 2026 haben wird, ist ungewiss. Fest steht, dass schmerzhafte Sparmaßnahmen, wie sie Lecornus Vorgänger Michel Barnier und dann François Bayrou vorgeschlagen hatten, nicht durchsetzbar erscheinen. Bestes Beispiel dafür ist der Sozialversicherungshaushalt, den die Nationalversammlung Mitte Dezember beschlossen hat. Dafür musste Lecornu den Forderungen der Sozialisten nachkommen und hat die mühsam durchgesetzte Rentenreform ausgesetzt. Zudem haben die Sozialisten auch den Verzicht auf milliardenschwere Ausgabenkürzungen durchgesetzt.
Es wirkt, als könnten die Franzosen die Wahrheit nicht ertragen. Nach all den Jahren mag das etwas mit Gewöhnung, wenn nicht mit politischer Mentalität zu tun haben. Sicher ist, dass die kollektive Realitätsleugnung die politische und haushaltspolitische Sackgasse erklärt, in der sich Frankreich seit der Auflösung der Nationalversammlung im Juni 2024 befindet.
„Die Franzosen werden belogen, die ganze Gesellschaft belügt sich selbst“, konstatiert Nicolas Dufourcq, Chef der staatlichen Investitionsbank Bpifrance und Autor des Buches „La Dette sociale de la France 1974–2024“ (Frankreichs soziale Schulden), in dem er darlegt, wie die Schuldensucht eine Eigendynamik entwickelt hat, die anzuhalten niemand willig oder imstande ist.
Frankreich betreibt den größten und teuersten Sozialstaat der Welt. Drei Viertel der Schulden, die das Land für seinen öffentlichen Haushalt seit 1975 aufgenommen hat, sind durch Sozialausgaben bedingt. Die Kranken- und Sozialversicherung verschlingt mit 47 Prozent inzwischen fast die Hälfte des Haushalts. Fast 52 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind heute in irgendeiner Form von öffentlichen Ausgaben abhängig, darunter allein sechs Millionen Beamte.
Die französische Wirtschaft wächst
Frankreich sei too big to fail, zu groß, um zu scheitern, heißt es gern. Einerseits ist das beruhigend. Andererseits geht es um völlig andere Summen als während der Griechenland-Krise. Auch wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) Frankreich im Notfall stützen könnte und die Europäische Zentralbank (EZB) inzwischen über Instrumente für derlei Ernstfälle verfügt, so würde man doch von Frankreich Zusagen für einen schnellen, wenn nicht brutalen Schuldenabbau verlangen.
Französische Politiker, aber auch deutsche Wirtschaftsfachleute geben derzeit noch Entwarnung: Das Land hat ein im Kern funktionierendes Staatswesen, die französische Wirtschaft wächst im Gegensatz zur deutschen. Auch die französische Außenhandelsbilanz ist seit Jahren nahezu ausgeglichen. Die Lage mag dramatisch sein, aber das Vertrauen in Frankreich, das Steuer in der Not notfalls umzuwerfen, ist noch immer groß.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke