„Gewicht verloren“ – Aus den stolzen Europäern werden Bittsteller in Südamerika
Es war alles vorbereitet in Foz de Iguacu. Dort, wo im Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay einer der schönsten Wasserfälle der Welt zu bestaunen ist, wollten die Südamerikaner nach über 25 Jahren endlich den vor allem von der deutschen Wirtschaft so sehr herbeigesehnten EU-Mercosur-Freihandelsvertrag unterzeichnen. Die drei Länder sind wie Uruguay und künftig auch Bolivien Mitgliedstaaten des südamerikanischen Handelsbündnisses Mercosur.
Das Bild des Wasserfalls, der sich nach trägem Zufluss spektakulär entfaltet, hätte symbolisch gepasst. So war es geplant, doch daraus wurde nichts. Am Vorabend der Unterzeichnung musste die EU-Kommission kleinlaut zurückziehen. Denn für die Unterzeichnung hätte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen grünes Licht aus dem Rat der 27 EU-Länder benötigt.
Dort zeichnete sich aber eine Sperrminorität aus Frankreich, Italien, Polen und Ungarn ab. Die Regierungen dieser Länder fürchteten die Wut ihrer Bauern, die sich durch den Vertrag benachteiligt fühlen. Es blieb nur die Verschiebung. Damit bestätigte sich der Eindruck, den Brüssel in Südamerika schon seit Jahren hinterlässt: ein bürokratischer Gigant, der alles besser weiß, aber längst nicht mehr steuer- und reformierbar scheint.
Im Laufe der langen Verhandlungen lassen sich die geopolitischen Kräfteverschiebungen zwischen den beiden Handelspartnern, die einfach nicht zueinanderfinden, sehr gut nachvollziehen. Zuerst nahmen die Europäer die Südamerikaner nicht als gleichberechtigte Handelspartner ernst, dann folgte rund um die Präsidentschaft des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro in Brasilien eine Phase der moralischen Belehrung.
Inzwischen sind aus den Europäern Bittsteller geworden, die in der Person der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni den amtierenden Mercosur-Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva (Brasilien) ersuchen müssen, weitere Verhandlungen nicht einfach abzusagen. Meloni habe ihm erklärt, „dass sie nicht gegen das Abkommen ist. Sie sieht sich wegen der italienischen Bauern lediglich einer gewissen politischen Verlegenheit gegenüber“, sagte Lula in Brasilia. Aber sie sei zuversichtlich, dass sie die Bauern überzeugen könne, das Abkommen zu akzeptieren.
„Ein endgültiges Scheitern dieser Verhandlungen und des Abkommens hätte sowohl für die EU als auch für den Mercosur Konsequenzen“, sagt die argentinische Politikwissenschaftlerin Constanza Mazzina von der Universität UCEMA in Buenos Aires. Die Europäische Union habe allerdings mehr zu verlieren als die Südamerikaner: „Die EU verliert angesichts der Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China auf globaler Ebene zunehmend an Macht, Gewicht und Einflussnahme.“
In Südamerika gibt es angesichts der Trägheit der EU eine große Frustration – von der profitiert vor allem China. Zeitgleich mit den Nachrichten des erneuten Scheiterns einer Unterzeichnung veröffentlichte der brasilianisch-chinesische Unternehmerrat ein vielsagendes Statement über das Fortschreiten der bilateralen Zusammenarbeit: „Während neue Produktionsketten entstehen und der internationale Handel und internationale Investitionen erhebliche Anpassungen durchlaufen, bauen beide Länder ihre Zusammenarbeit in strategischen Bereichen aus, die von digitaler Innovation über Infrastruktur bis hin zur grünen Industrie reichen.“
Franzosen verstecken sich hinter Umweltbedenken
Brasiliens Präsident Lula, dessen Herz sowieso eher für Autokratien wie China, Russland oder Kuba schlägt, ließ die Europäer wissen, Südamerika habe mehr für den Vertrag gegeben als die Europäer. Das allerdings ist nicht ganz richtig. Als das Abkommen 2019 zu Beginn der Präsidentschaft Bolsonaros fertig vorlag, konnten die Franzosen ihren erbitterten Widerstand noch hinter Umweltbedenken verstecken.
Inzwischen sind aber unter Lula die Zulassung von Pestiziden, die Rindfleischproduktion, die Soja-Produktion und die Investitionen in fossile Brennstoffe auf neues Rekordniveau gestiegen. Doch was der EU bei Bolsonaro noch wichtig war, spielt angesichts des eigenen Bedeutungsverlusts keine Rolle mehr.
Die EU stellte ihre Umweltbedenken hintenan, und Lula bekommt nun einen Vertrag, den die Europäer seinem Vorgänger niemals zugestanden hätten. Brasiliens hochmoderne und effiziente, umweltpolitisch aber umstrittene Agrar-Industrie muss künftig keine Belehrungen mehr aus Brüssel fürchten.
Argentiniens Präsident Javier Milei, der sowohl politisch als auch persönlich enge Beziehungen zu Meloni pflegt, dachte in der Vergangenheit bereits öffentlich darüber nach, den Mercosur zu verlassen. Für ihn sei das eine Art „Gefängnis“ für die südamerikanischen Länder.
Argentinien hat längst eine Alternative: Die USA arbeiten gerade ein Handelsabkommen mit Buenos Aires aus. Dafür brauchte Washington allerdings nur wenige Monate und nicht, wie die EU, mehr als ein Vierteljahrhundert. Zudem ergeben sich für Buenos Aires aus den jüngsten Wahlergebnissen ganz neue politische Perspektiven mit politisch ähnlich ausgerichteten Nachbarländern Bolivien und Chile.
Uruguay wiederum spricht seit geraumer Zeit mit China über einen Freihandelsvertrag. Beide Verträge hätten wiederum das Potenzial, auch das Mercosur-Bündnis infrage zu stellen, das bilaterale Abkommen eigentlich nicht akzeptiert. „Scheitert das Abkommen, dann wäre aus südamerikanischer Sicht der Europäischen Union eine Möglichkeit genommen, ihren Horizont zu erweitern, sich wirklich wieder zu stärken und einen wichtigen Platz auf globaler Ebene einzunehmen“, sagt die argentinische Politikwissenschaftlerin Mazzina.
Eine Schlüsselrolle kommt deswegen nun in Europa Meloni und in Südamerika Milei zu. Beide könnten mit ihrer Zustimmung den EU-Mercosur-Vertrag retten oder aber durch Ablehnung zum endgültigen Scheitern bringen. Dass sich die Europäer bislang kaum um den libertären Präsidenten Argentiniens bemühten, könnte noch teuer werden. Nun muss es Meloni retten.
Dabei wären die südamerikanischen Partner eigentlich der perfekte Partner für Europa – demokratisch regiert, kulturelle Gemeinsamkeiten. Südamerika hat das, was Europa benötigt: Rohstoffe und einen großen Markt, auf dem sich angesichts einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung hochwertigen Waren verkaufen lassen. Umgekehrt bietet Europa südamerikanischen Anbietern neue Wachstumschancen, um eine einseitige Abhängigkeit von China zu vermeiden. Denn schon jetzt ist Peking der wichtigste Handelspartner der südamerikanischen Großmächte Brasilien und Argentinien.
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
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