Wenn wir in die EU eintreten – wer steht dann am Tor und bewacht sie vor Migranten? So lautet ein bekannter türkischer Scherz über das Verhältnis zur Europäischen Union. Davon gibt es in der Türkei viele. Kein anderes Land wartet so lange auf die Mitgliedschaft. Seit der Antragsstellung vor 38 Jahren sind 16 andere Staaten beigetreten. Die türkische Antwort auf die Frage, warum es so lange dauert: „Weil wir so wertvoll sind – wie ein alter Teppich.“ Und wann wird die Mitgliedschaft kommen? „Am 31. Februar.“

Hinter Scherzen wie diesen steckt eine große, landesweite Enttäuschung. Vor allem internationale Umfrageinstitute kommen zwar seit Jahren zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Türken der EU noch immer positiv gegenübersteht. Das liegt größtenteils am Geld: Fast 60 Prozent gaben in einer aktuellen Umfrage der EU-Delegation in der Türkei an, Europa wegen der wirtschaftlichen Unterstützung gut zu finden.

Die allgemeine Zustimmung ist in den vergangenen 20 Jahren aber gesunken. Es gibt zudem eine wachsende Diskrepanz zwischen dem Wunsch, Teil der EU zu sein, und dem Glauben, dass dieser Wunsch auch erfüllt wird. Zwei von drei befragten Türken sagten etwa 2022 dem Institut Metropoll, dass ihr Land „niemals“ der EU beitreten wird. Eine als regierungsnah eingestufte Umfragefirma kam in diesem Jahr sogar zu dem Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung will gar nicht mehr Mitglied werden.

Daran änderte bisher auch die neueste Charmeoffensive des bundesdeutschen Außenministers nichts. Bei einer Pressekonferenz mit seinem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan vor einigen Tagen in Berlin hatte Johann Wadephul dem Gast neue EU-Hoffnungen gemacht: „Es ist an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“

Wörtlich kann er das nicht gemeint haben. Von den 35 Beitrittskapiteln wurden bisher nur 16 eröffnet und eines abgeschlossen. Seit 2018 steht der Prozess still, wegen Rückschritten in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die bescheinigt die EU-Kommission der Türkei jedes Jahr in ihren Lageberichten. Zum Beispiel darf es eine Erweiterung der Zollunion, die mittlerweile selbst deutsche Unternehmen wollen, oder auch eine Visa-Liberalisierung erst dann geben, wenn sich die Menschenrechtslage verbessert.

Warum ist Ungarn noch in der EU?

Dieser Strategie des moralischen Zeigefingers widerspricht Wadephuls Offerte aber nur theoretisch. Werte sind in der EU keine rote Linie mehr, sondern vor allem ein rhetorisches Mittel. Das hat auch die türkische Regierung gelernt. Sie kann Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ignorieren, ohne dafür ernste Konsequenzen zu erwarten.

Auch politisch aufgeladene Fälle, wie die des inhaftierten Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu, werden von der EU kaum kommentiert. Gleichzeitig sollen regierungsnahe Medien, Denkfabriken und islamistische Einrichtungen seit Jahren EU-Gelder erhalten. Recherchen türkischer Journalisten zufolge bekam etwa eine Jugendstiftung, in deren Vorstand einer der Söhne von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sitzt, mehrere hunderttausend Euro aus der EU.

Um Werte gehe es der Staatengemeinschaft schon lange nicht mehr, sagt einer der Gründer der EU-Forschungsstiftung ABKAD in Ankara, Can Baydarol. Er nennt noch ein Beispiel: „Wenn Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit so wichtig sind: Warum ist Ungarn noch in der EU?“ Dass Deutschland sich nun im Beitrittsprozess für die Türkei einsetzen will, bezeichnet er abfällig als „Geschenk, das Erdogan innenpolitisch ausschlachten kann“. Die Bundesregierung erhoffe sich dafür Kooperationen in den Bereichen Verteidigung, Rüstung, Migration und Energie.

Freundliche Töne gegenüber der türkischen Regierung sind kein Widerspruch, sondern zur Notwendigkeit geworden. Durch die geopolitische Lage zwischen Europa und Asien, in direkter Nachbarschaft zu Balkan, Mittlerem Osten und Kaukasus war die türkische Außenpolitik schon vor Erdogan breit aufgestellt.

Die Regierung redet mit Russland und der Ukraine, spricht mit den Terroristen der Hamas und soll verdeckte Kanäle nach Israel haben. Durch die Türkei fließen Gaspipelines und an türkischen Häfen sollen sogar Sanktionen gegen Russland umgangen worden sein. Zudem ist die Armee ständig einsatzbereit und die zweitgrößte in der Nato – trotz zahlreicher Rüstungsembargos.

Viele Länder Europas haben diesen strategischen Wert der Türkei trotzdem erst vor Kurzem entdeckt. Aus Angst vor Russland und einer sinkenden Verteidigungsbereitschaft der USA wenden sie sich nun dem Land zu, das sie über Jahrzehnte aus moralischen Gründen ausgeschlossen haben.

Irgendetwas müsse man der Türkei nun anbieten, sagt Özgür Ünal Eris, die an der Istanbuler „29. Mai Universität“ als Professorin für EU-Politik tätig ist. „Der deutsche Außenminister hat normative Überlegungen gegen strategische Argumente ausgetauscht.“

Darüber hatte die Professorin vor zwei Jahren in einer Studie geschrieben: Seit der Zeitenwende seien Werte und Interessen in der Türkeipolitik Deutschlands nicht mehr vereinbar. Durch die Aussage Wadephuls fühlt sie sich bestätigt. „Er hat erkannt, dass unbefristet eingefrorene Beitrittsgespräche weder tragbar noch zielführend sind.“

Das Ziel sei aber nicht die EU-Mitgliedschaft, sondern ein engerer Transaktionalismus. Das müsse aber kein Nachteil sein, sagt Eris. „Die Türkei und Europa könnten sich über das deutsche Engagement wieder näherkommen und versuchen, zerbrochenes Vertrauen aufzubauen.“

Mit Blick auf eine Mitgliedschaft der Türkei ist die Offensive Wadephuls aber harmlos. Selbst wenn die EU der Türkei eines Tages die größten Fortschritte in Fragen wie Demokratie attestieren könnte: Ein Beitritt bleibt unrealistisch. Dazu müssten zuerst alle Mitglieder bestimmen, dass der Rat der Europäischen Union ein Verhandlungsmandat erteilt. Griechenland und Zypern blockieren das aber seit Jahren. Vor allem die Aufnahme Zyperns im Jahr 2004 wird in der Türkei bis heute als Affront und als Absurdität verstanden. Denn die Insel im östlichen Mittelmeer ist bis heute geteilt.

„Macht eure Hausaufgaben und dann schauen wir mal“

Der Norden wird international nur von der Türkei anerkannt und ist deswegen de facto kein EU-Land. Eine Lösung der Zypernfrage ist seit dem EU-Beitritt so unwahrscheinlich wie eine Aufnahme der Türkei.

Die Blockade der Mittelmeerstaaten dürfte der türkischen Regierung dennoch gelegen kommen. Als Mitglied müsste das Land zahlreiche Kompetenzen nach Brüssel abgeben. Auch wären Alleingänge wie das Auslassen von Sanktionen gegen Russland im Krieg gegen die Ukraine kaum noch vorstellbar. Eine EU-Mitgliedschaft passt nicht zum türkischen Streben nach Unabhängigkeit. Wohl deswegen nennt die Regierung den Beitritt nur ein „strategisches Ziel“.

Im Umgang mit europäischen Politikern kann die Türkei derweil bequem schimpfen und eine Doppelmoral anprangern, die tatsächlich schwer von der Hand zu weisen ist. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Türkei seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen sinngemäß gesagt wird: „Macht eure Hausaufgaben und dann schauen wir mal.“ Die Devise ist irritierend, denn eine solche Unverbindlichkeit gibt es in Verhandlungen mit anderen Ländern nicht.

Auch darüber hat sich ein bekannter Witz etabliert: „Treffen sich Bulgarien, Rumänien und die Türkei bei der EU-Aufnahmeprüfung. Bulgarien und Rumänien müssen die Hauptstädte von Frankreich und England nennen. Dann ist die Türkei an der Reihe: ‚Wie viele Menschen starben beim Abwurf der Atombomben auf Japan, wie heißen sie und wie lauten ihre Sozialversicherungsnummern?‘“

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