„Bestimmte Formen von Migration erzeugen Unsicherheit“
Kein EU-Staat ist so oft mit Russlands Aktionen hybrider Kriegsführung konfrontiert wie Polen. Spionage, Sabotage, Drohneneinsätze, Cyberangriffe und Desinformationskampagnen sind nur einige der Phänomene, denen das Land nahezu täglich ausgesetzt ist – und damit auch seine Geheimdienste, die als besonders erfahren mit Blick auf die neue Gefahrenlage in Europa gelten.
Tomasz Siemoniak bekleidet seit Dezember 2023 das Amt des Koordinators der Sicherheitsdienste. Der 58-Jährige sitzt im Rang eines Ministers im Kabinett und fungiert als Schnittstelle zwischen Regierung und Geheimdiensten, darunter den drei Hauptdiensten: Inlandsgeheimdienst (ABW), Auslandsgeheimdienst (AW) und Militärgeheimdienst für Gegenspionage (SKW). Dazu soll er die Arbeit der Dienste koordinieren und sie gleichzeitig kontrollieren. Die polnischen Dienste gelten als sehr gut über die Situation in der Ukraine informiert und pflegen traditionell enge Beziehungen zu ihren Kollegen in den USA und in Deutschland.
WELT: Herr Siemoniak, gegenüber polnischen Medien haben Sie gesagt, dass Russland gegen Polen „losschlagen“ könne und Ihr Land vorbereitet sein müsse. Was genau bedeutet das?
Tomasz Siemoniak: Ja, ich habe das schon oft gesagt und tue es immer wieder: Russland ist eine akute Bedrohung für uns. Bei allen Mitteln, die zum Einsatz kommen können, zählen Gefahren aus der Luft zu den größten. Das zeigt das Vorgehen der Russen in der Ukraine, unter anderem der massive Einsatz von Drohnen verschiedener Art, aber nach wie vor der von Bomben und Raketen, die von verschiedenen Trägersystemen ins Ziel gebracht werden. Das ist etwas, was wir weit oben auf unserer Liste haben müssen.
WELT: Polen steht im Zentrum des hybriden Krieges, den Russland gegen Europa führt: „Migration als Waffe“, Drohnen, Cyberattacken, Sabotage und Spionage. Wieso ist ausgerechnet Ihr Land dem in diesem Umfang ausgesetzt?
Siemoniak: Diese starke Aktivität hat mit Polens Nähe zur Ukraine und der strategischen Bedeutung des Landes für die Kriegshandlungen in der Ukraine zu tun. Polen unterstützt die Ukraine und über Polen wird der Großteil der militärischen Hilfen für die Ukraine abgewickelt. Ich denke, vor diesem Hintergrund ist es natürlich, dass Russland versucht, mit „aktiven Maßnahmen“ gegen uns vorzugehen.
WELT: Polen hat schon länger damit zu tun. Doch mittlerweile werden Drohnen vermehrt auch über Dänemark oder Deutschland gesichtet. Erleben wir eine Eskalation dieser hybriden Kriegsführung?
Siemoniak: Wir beobachten unterschiedliche Vorgehensweisen. Vor allem Sabotage und Sabotageversuche, etwa Brandstiftung, Angriffe auf bestimmte Objekte, beschäftigen uns. In dem Zusammenhang haben wir es mit dem Auskundschaften von Objekten zu tun, dem Abfotografieren dieser Objekte, und versuchter Informationsgewinnung. In Polen sehen seit einigen Wochen eine Zunahme von Aktivitäten, die von Russland und Belarus ausgehen. Wir reagieren darauf und nehmen regelmäßig Personen fest, die unter Spionageverdacht stehen. Die europäischen Dienste sind nicht naiv. Schon vor Russlands Angriff auf die gesamte Ukraine haben wir sogar Anschläge auf Personen erlebt, in Großbritannien oder Deutschland. Sabotageversuche nehmen wir heute in Polen, Litauen, Tschechien, aber auch in Deutschland wahr.
WELT: Die polnischen Dienste, an erster Stelle der Inlandsgeheimdienst ABW, haben auch polizeiliche Befugnisse und treten robust auf. In Deutschland klagen Sicherheitsexperten darüber, dass etwa der BND nicht über genügend Befugnisse verfüge. Wie bewerten Sie das?
Siemoniak: Unsere Zusammenarbeit mit den deutschen Diensten ist eng. Gerade erst hatte ich die Gelegenheit, mich mit dem Koordinator der deutschen Geheimdienste, Thorsten Frei, auszutauschen. Aus meiner Zeit im Innenministerium kann ich Ihnen bestätigen, dass es bei der Gefahrenabwehr auch eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den Innenministerien beider Länder gibt.
WELT: Aber sind die Dienste auch ausreichend auf die aktuelle Gefahrenlage vorbereitet?
Siemoniak: Ich möchte nicht die Arbeit der Dienste in Partnerländern kommentieren. In jedem Land gibt es bestimmte Traditionen und einen bestimmten rechtlichen Rahmen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es für unsere Dienste in Europa eine intensive Zeit und damit auch eine Zeit von Veränderung und Reform ist. Auf die Bedrohungen, wie zum Beispiel Sabotage, muss angemessen reagiert werden. Unsere Partner wissen so wie wir, dass das einen entsprechenden Einsatz von Geheimdiensten erfordert. Die Nachrichten- und Geheimdienste stehen an vorderster Front.
WELT: Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt. Russland stellt eine Bedrohung für Europa dar, Chinas Machtambitionen ändern die Weltlage, die USA definieren ihr Rolle neu, Terrorismus, der Klimawandel und Migrationsströme wirken auf Europa. Wie stark beeinflussen diese Phänomene den Kontinent?
Siemoniak: Europa steht vor der Herausforderung, im Angesicht verschiedener Probleme an Kraft gewinnen zu müssen, um handlungsfähig zu sein. Europas wirtschaftliche Macht, auch die wirtschaftliche Macht einzelner Mitgliedstaaten der EU, sind nicht wegzureden. Aber diese Macht adäquat in politische Macht, gerade auch in militärische Macht, umzusetzen, gelingt zu selten oder noch nicht. Aber Europa hat die Ambition, in Asien und im Nahen Osten eine gewichtigere Rolle zu spielen. Vor allem militärische Fähigkeiten müssen ausgebaut werden. Es gibt dieses Bewusstsein in einzelnen europäischen Staaten, aber auch seitens der EU, die Mittel für wachsendes militärisches Potenzial zur Verfügung stellt. Die Antwort, die wir auf eine gefährlicher werdende Welt geben müssen, ist: Wir müssen stark sein, auch militärisch stark. Die Führungspersönlichkeiten in Europa verstehen das. Auf den von Ihnen angesprochen Feldern geschieht viel. Schauen Sie, wie wir mittlerweile mit dem Thema illegale Migration umgehen. Einige haben endlich ihre Haltung dazu geändert, Europa beginnt, seine Grenzen effektiv zu schützen und Migranten zurückzuführen. Ein Grund dafür ist sicher auch, dass Regierungen in einigen Ländern unter dem Druck ihrer Bevölkerungen umgedacht haben. Die Bevölkerungen fordern Sicherheit und bestimmte Formen von Migration erzeugen Unsicherheit.
WELT: Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Nachrichten- oder Geheimdienste?
Siemoniak: Wir stehen auch hier an vorderster Front. Wir brauchen starke Streitkräfte, die kommen allerdings erst im Krieg zum Einsatz. Die Dienste wirken bereits im Frieden. Wir müssen auch in Friedenszeiten Sicherheit im Innern garantieren, wir müssen wissen, wer im Land ist, ob jemand eine Gefahr darstellt, wir müssen Gegenspionage betreiben, Infrastrukturen sichern, Sabotage verhindern und Desinformation entgegentreten. Natürlich müssen wir über all das auch die Politik und Entscheidungsträger informieren. Wesentlich ist die Zusammenarbeit der Dienste in Europa und der Nato, die eine lange Tradition hat.
WELT: Einige Beobachter, aber auch Politiker bemängeln, dass die Europäer lediglich „reaktiv“ seien und fordern ein aktiveres oder härteres Vorgehen, zum Beispiel sogenannte „Hackbacks“ – also Gegenattacken – im Fall von Cyberangriffen. Wie bewerten Sie das?
Siemoniak: Ich kann nicht über Details sprechen. Aber anzunehmen, wir würden nur reagieren, uns lediglich verteidigen, wäre verfehlt. Wir sind fähig, dem Feind klarzumachen, dass wir bestimmte Aktionen nicht tolerieren. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.
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