Als Luay S. am frühen Freitagmorgen in Johannesburg landet, trägt er zwei Hosen übereinander, zwei Hemden, zwei Jacken. Seine Frau und die beiden kleinen Kinder auch. In der Hand hält er eine durchsichtige Plastiktüte. „Sie haben uns gesagt, wir dürfen keine richtigen Taschen mitnehmen“, erzählt er am Telefon. „Alles musste in leichte, durchsichtige Tüten passen – wir haben da Papiere, Medikamente und Ladekabel reingepackt.“

Luay ist einer von 153 Palästinensern aus Gaza, die mit einem Charterflug am Johannesburger Flughafen OR Tambo ankamen – und deren Ankunft die südafrikanischen Behörden ins Chaos stürzte, wenige Tage vor dem G-20-Gipfel, der am 22. November in Johannesburg beginnen wird. Das Land, das Israel Ende 2023 vor den Internationalen Gerichtshof gezerrt hat, findet sich inmitten einer Debatte darüber, wie freiwillig die von Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu angestrebte „freiwillige Ausreise“ von möglichst vielen Bewohnern Gazas wirklich ist. Und inwiefern dubiose Unternehmen von der Situation profitieren.

Der Weg von Luay, einem Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation in Gaza, und seiner Familie aus dem Kriegsgebiet nach Südafrika begann sechs Monate vorher mit einem Klick in den sozialen Netzwerken. „Es war eine Facebook-Anzeige“, erinnert sich der 35-Jährige. „Da stand: Wir organisieren sofortige Evakuierung, melden Sie sich über diesen Link.“

Der führte ihn auf die Seite einer laut Selbstbeschreibung „humanitären Organisation“ namens Al-Majd Europe, die „Hilfe und Rettungsaktionen für muslimische Gemeinschaften in Konflikt- und Kriegsgebieten“ als eine ihrer Leistungen listet. Luay lädt Passkopien hoch, trägt die Namen der Familienmitglieder und seine Kontaktdaten in ein Formular ein.

Nicht einmal das Zielland kennt er

Dann beginnt eine monatelange Hängepartie. „Ich habe einen Anruf bekommen, dass die Israelis jetzt mit der Sicherheitsüberprüfung beginnen würden.“ Als die vorlag, kam der nächste Anruf. Es werde bald einen Flug geben: „Haben Sie Interesse?“ 8000 Dollar seien für die Familie fällig, 2000 Dollar pro Person also, zu bezahlen in USDT, einer Kryptowährung.

Luay zögert lange, will seine Eltern und Freunde nicht zurücklassen. Aber er glaubt, dass der Waffenstillstand nicht lange halten wird. Er habe an die Zukunft seiner Kinder gedacht, sagt er, nicht nur an die Gefahr, auch an die Schulbildung, die in Gaza derzeit nicht stattfinden könne. Er zahlt, ermutigt auch davon, dass Bekannte kurz zuvor über ein derartiges Angebot in Indonesien angekommen waren. Ja, er habe ein Vermögen gezahlt, sagt Luay, „aber für ein Leben ist es doch nichts.“

Dabei weiß er in diesem Moment nicht einmal, in welches Land er gebracht werden soll. Es sei ihm jedoch klar gewesen, dass Südafrika ein mögliches Ziel war, weil das Land Palästinenser ohne Visum einreisen lässt – einst ein Dankeschön der Regierungspartei „African National Congress“ (ANC) für die logistische Unterstützung der Palestine Liberation Organization (PLO) während des Befreiungskampfes gegen die Apartheid.

Die israelische Zeitung „Haaretz“ hat recherchiert, dass hinter dem dubiosen Geschäftsmodell von Al-Majd Europe ein israelisch-estnischer Geschäftsmann steht. Das „Büro für freiwillige Auswanderung“ im israelischen Verteidigungsministerium habe die Organisation dem Bericht zufolge an die Armee vermittelt, um Ausreisen zu koordinieren. Al-Majd behauptet, im Jahr 2010 in Deutschland gegründet worden zu sein und Büros in Ostjerusalem zu haben. Dort ist sie laut „Haaretz“ jedoch nicht registriert. Auch die Homepage ging erst vor einem Jahr online.

Auf „mysteriöse Weise“ ins Flugzeug gesetzt

Doch die Reise läuft zunächst nach Plan. Am vergangenen Mittwoch werden Luay und seine Familie im Morgengrauen an einem Treffpunkt abgeholt. Drei Stunden habe der Sicherheitscheck der Israelis am Grenzübergang Kerem Schalom gedauert. „Sie haben unsere Pässe mit ihren Geräten gescannt, danach mussten wir im Bus warten“, sagt Luay, „dann haben sie uns passieren lassen.“ Nach drei Stunden erreichten sie den Flughafen Ramon. Von dort wurden schon ähnliche Flüge nach Indonesien abgefertigt.

Und auch nach Südafrika. Bereits Ende Oktober war dort ein Flugzeug mit 176 palästinensischen Flüchtlingen gelandet, was erst vor einigen Tagen durch Hilfsorganisationen bekannt wurde. Dennoch zeigten sich die Behörden überrascht, als die Gruppe am Freitagmorgen nach einem Zwischenstopp in Nairobi in Johannesburg landete.

Sie hielten die Passagiere zwölf Stunden an Bord zurück. Offiziell, weil israelische Ausreisestempel in den Pässen fehlten. „Viele Freunde, die früher über Al-Majd, über andere Organisationen oder über Botschaften ausgereist sind, hatten auch keine Stempel. Manche hatten nicht einmal Pässe, wurden mit Ausweisen oder Geburtsurkunden evakuiert.“ Erst am Flughafen in Johannesburg realisiert er, dass dieser „Normalfall“ ein Problem wird. „Wir saßen fast den ganzen Tag in der Maschine“, erzählt er. „Es war heiß, das Flugzeug voller Kinder, Kranker, alter Menschen, vieler Frauen. Wir wussten nicht, ob wir einreisen dürfen oder zurückgeschickt werden.“

Das südafrikanische Portal Daily Maverick berichtet, dass die südafrikanische Polizei die Fluggesellschaft bereits angewiesen hatte, die Flüchtlinge an ihren Herkunftsort zurückzubringen. Dann habe Präsident Cyril Ramaphosa ihre Aufnahme angeordnet, wohl wissend, dass er sonst angesichts der scharfen Kritik seiner Regierung an Israel international als Heuchler dagestanden hätte.

Die Flüchtlinge seien „irgendwie auf mysteriöse Weise in ein Flugzeug gesetzt worden“, gab Ramaphosa zu Protokoll. Doch sie würden aus „einem vom Krieg zerrissenen Land“ stammen, „wir können sie nicht zurückweisen“. Man werde allerdings eine „ordentliche Untersuchung“ einleiten, sagte er in Richtung der zahlreichen Südafrikaner, die in den sozialen Netzwerken Sicherheitsbedenken äußerten. Rund 130 Palästinenser nahmen das Einreiseangebot an und bekamen ein 90 Tage lang gültiges Standardvisum. Noch ist unklar, ob sie Asyl beantragen werden. Rund 20 reisten unmittelbar in andere Länder weiter.

Der französische Fernsehsender France24 berichtet, dass Israel die Erlaubnis Südafrikas vorliegen hatte. Ramaphosas Sprecher Vincent Magwenya dementiert das gegenüber WELT entschieden: „Diese Erlaubnis liegt nicht vor. Israels Regierung lügt weiterhin.“ Die Regierung steht unter dem Druck der lautstarken pro-palästinensischen Lobby im Land, allen voran der größten Hilfsorganisation im Land, Gift of the Givers, die auch in Gaza tätig ist.

Deren Gründer Imtiaz Sooliman, der zunehmend mit politischem Aktivismus auffällt, bezeichnete den Flug als „Teil der ethnischen Säuberungen durch Israel“. Es handele sich um Zwangsmigration, die Verzweiflung der Menschen sei zudem finanziell von „israelischen Fassadenorganisationen“ ausgenutzt worden.

Gift of the Givers hat die Unterkunft und Kleidung für die Flüchtlinge aus Gaza arrangiert, spontan, wie die Organisation sagt. Luay lebt mit seiner Familie vorerst in Roshnee, einer Kleinstadt südlich von Johannesburg. Ob er Asyl beantragen wird, weiß er noch nicht. „Wir haben jetzt 90 Tage Zeit, so lange ist das Visum gültig“, sagt er. „Wir prüfen die Lage.“ Aber eines Tages werde er nach Gaza zurückkehren. Das stehe für ihn fest.

Christian Putsch ist Afrika-Korrespondent. Er hat im Auftrag von WELT seit dem Jahr 2009 aus über 30 Ländern dieses geopolitisch zunehmend bedeutenden Kontinents berichtet.

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