So viele Ukrainer wollen „für immer“ in Deutschland bleiben
Deutschland ist für viele Ukrainer kein Zwischenstopp mehr, sondern der Ort für einen Neuanfang: Fast sechs von zehn Flüchtlingen aus dem osteuropäischen Land wollen längerfristig hier leben, wie eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigt. Demnach planen 59 Prozent aller Befragten für immer oder für mehrere Jahre in Deutschland zu leben.
Vor allem die Erwachsenen haben sich auf ein Leben hierzulande eingestellt. 49 Prozent von ihnen wollen „für immer“ bleiben. Unter Kindern und Jugendlichen sind es 34 Prozent. Ob sie ihre Zukunft in Deutschland sehen, hängt den Forschern zufolge auch davon ab, wie gut sie Deutsch sprechen und ob sie hier enge Freunde gefunden haben. Geringer ist die Bleibeabsicht, wenn Kinder neben dem deutschen Schulunterricht weiterhin an ukrainischem Onlineunterricht teilnehmen.
Die Sprachkenntnisse ukrainischer Kinder und Jugendlicher haben sich den Ergebnissen zufolge in den vergangenen drei Jahren deutlich verbessert. Während 2022 noch 92 Prozent ihre Deutschkenntnisse als „gar nicht“ oder „eher schlecht“ bezeichneten, sind es inzwischen nur noch 13 Prozent. Fast die Hälfte (48 Prozent) hält ihre Sprachkenntnisse mittlerweile für gut bis sehr gut.
Auch Erwachsene machen demnach Fortschritte, wenn auch langsamer. 2022 gaben 89 Prozent von ihnen an, kaum Deutsch-Kenntnisse zu haben. Heute sind es 59 Prozent. Acht Prozent bezeichneten ihre Kenntnisse als „gut bis sehr gut“. Katharina Spieß, Direktorin des BiB, betont: „Wir wissen, dass Sprache für Teilhabe an der Gesellschaft absolut essenziell ist.“
Bemerkenswert ist dem BiB zufolge, dass die Sprachkompetenz der Eltern eng mit der ihrer Kinder verknüpft ist. Wenn ukrainische Mütter und Väter wenig Deutsch sprechen, fielen auch die Sprachkenntnisse der Kinder schlechter aus. Das sei bei Ukrainern anders als bei anderen Migrantengruppen, in denen Kinder oft schneller Deutsch lernten, um ihre Eltern im Alltag zu unterstützen.
Das Schulzugehörigkeitsgefühl der befragten Kinder und Jugendlichen fällt unterdurchschnittlich aus. Lediglich 63 Prozent der ukrainischen Kinder in Deutschland gaben an, sich in ihrer Schule zugehörig zu fühlen.
Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert der Pisa-Studie 2022 zufolge insgesamt bei 76 Prozent, in der Ukraine bei 84 Prozent. Syrische und afghanische Kinder hätten in Deutschland schon nach kurzer Zeit ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl entwickelt, betonen die Forscher der aktuellen Erhebung. Dieses Gefühl sei entscheidend für das Wohlbefinden und für erfolgreiches Lernen.
Zahl der Erwerbstätigen steigt
Aus den Ergebnissen der Studie geht außerdem hervor, dass die Erwerbstätigenquote der 20- bis 50-jährigen Ukrainer im ersten Befragungszeitraum im Herbst 2022 bei 18 Prozent lag. Bis zum Frühsommer 2025 ist die Quote den Studienautoren zufolge auf 53 Prozent angestiegen.
Vor allem im vergangenen Jahr sei der Anstieg besonders ausgeprägt gewesen. Lag die Quote zwischen März und April 2024 noch bei 32 Prozent, war sie im November bereits auf 46 Prozent gestiegen. „Damit verläuft die Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Schutzsuchenden bisher deutlich schneller als für Schutzsuchende aus anderen Herkunftsregionen“, urteilen die Forscher. 27 Prozent der Befragten waren im Befragungszeitraum im Sommer 2025 arbeitslos.
Aus den Daten zeigt sich auch, dass die in Deutschland Schutz suchenden Ukrainer im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in der Ukraine durchschnittlich jünger und besser ausgebildet sind. 60 Prozent haben demnach einen tertiären Bildungsabschluss, also eine höhere berufliche oder akademische Qualifikation, zum Beispiel einen Universitätsabschluss, einen Meister- oder Fachwirtabschluss. Auffällig ist jedoch: Je später die Menschen nach Deutschland kamen, desto niedriger fiel das Qualifikationsniveau aus.
Lag der Anteil der ukrainischen Staatsbürger mit tertiärem Bildungsabschluss, die zwischen Februar und März 2022 einreisten, bei 62 Prozent, sank er bei jenen, die nach Januar 2023 ins Land kamen, um acht Prozentpunkte. Das bestätige bisherige Forschungsergebnisse, schreiben die Autoren. Früh Geflüchtete seien tendenziell besser ausgebildet, wohlhabender und risikobereiter. Die Forscher warnen: „Damit einhergeht die Vermutung, dass es durch die weitere Aufnahme von Schutzsuchenden zu steigenden Herausforderungen kommt.“
Die Flucht hat offenbar viele Familienbeziehungen verändert. 24 Prozent der ukrainischen Frauen kamen zwischen Februar und Juni 2022 gemeinsam mit ihrem Partner nach Deutschland. 31 Prozent gaben an, dass ihr Partner in der Ukraine oder einem anderen Land geblieben sei. 45 Prozent waren demnach alleinstehend.
Von den Frauen, die damals keinen Partner hatten, leben heute 22 Prozent in einer Beziehung. Zudem haben sich viele von ihrem Partner getrennt, der in der Ukraine blieb – die Trennungsquote liegt bei 29 Prozent. Die Flucht vor dem Krieg habe als Trennungskatalysator fungiert, sagt Kerstin Ruckdeschel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am BiB. „Ehen waren dabei stabiler über die räumliche Trennung hinweg. Trennungen waren wahrscheinlicher, wenn die Partner noch nicht verheiratet waren.“
Frauen, die langfristig in Deutschland bleiben wollen, trennen sich laut Erhebung häufiger von ihrem Partner im Heimatland. Jede zweite Frau, die mit ihrem Partner geflüchtet war, möchte dauerhaft bleiben; bei Frauen mit Partner im Ausland sind es nur 27 Prozent.
Insgesamt leben in Deutschland derzeit rund 1,2 Millionen Ukrainer – mehr als in jedem anderen Land in Europa. Damit gehören sie nach Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge innerhalb Deutschlands mittlerweile zur größten Gruppe Schutzsuchender und zur zweitgrößten Gruppe an Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. 43 Prozent der Ukrainer in Deutschland sind jünger als 30 Jahre, zehn Prozent sind älter als 65 Jahre. Damit sind sie deutlich jünger als die deutsche Bevölkerung. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt hierzulande bei 25 Prozent, der der jungen Menschen unter 30 Jahren bei 29 Prozent.
Der Gesundheitszustand der Ukrainer liegt der Studie zufolge auf einem ähnlichen Niveau wie in Deutschland insgesamt. Auf einer Skala von eins (sehr schlecht) bis fünf (sehr gut) gaben die Befragten im Schnitt 3,5 Punkte an, was fast identisch mit dem deutschen Durchschnitt von 3,6 ist. Für die Studie wurden den Autoren zufolge 40.000 Interviews zwischen 2022 und 2025 geführt.
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.
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