Krisenfall in Deutschland? Dieses „Prepping“ empfiehlt ein Experte den Bürgern
Ferdinand Gehringer, 34, arbeitet seit 2021 als Referent für Cybersicherheit in der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.
WELT: Herr Gehringer, wie gut ist Deutschland auf einer Skala von eins bis zehn im Ernstfall tatsächlich vorbereitet?
Ferdinand Gehringer: Es kommt darauf an, von welchem Ernstfall wir konkret ausgehen. Insgesamt, militärisch und zivil, würde ich Deutschland auf einer Vier oder Fünf einordnen, in manchen Bereichen vielleicht auch bei einer Sechs. Während die Vorbereitungen auf der militärischen Seite derzeit voranschreiten, sind wir vor allem im zivilen Bereich aber nicht gut gewappnet.
WELT: Lassen Sie uns konkret werden: Wo sehen Sie die Schwachstellen in der Krisenfestigkeit Deutschlands?
Gehringer: Es gibt kaum konkrete Pläne, wie die Grundversorgung der Bevölkerung im Ernstfall gesichert werden kann. Zwar existieren Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze, doch sie stammen aus Zeiten des Kalten Krieges und sind nicht mehr zeitgemäß. Problematisch ist etwa, dass die kritische Infrastruktur heute weitgehend privatisiert ist. Wenn die Bundeswehr im Ernstfall Unterstützung von Versorgungsbetrieben anfordert, ist unklar, was Vorrang hat – die Daseinsvorsorge der Bevölkerung oder die militärische Unterstützung.
Auch in der Ernährungsversorgung beispielsweise gibt es bislang noch keine ausreichenden Konzepte: Wie kann man dezentral in kleineren Lagern Grundnahrungsmittel für die Bevölkerung vorhalten? Zwar existiert eine Bundesreserve unter anderem mit Hülsenfrüchten, Weizen und Kondensmilch. Doch hier müsste man erst mal überlegen, ob das so noch zeitgemäß ist. Das geht bei den Grundprodukten los, geht über Lagerung, Verarbeitung und endet bei der Verteilung.
Die Verarbeitung von Weizen zu Mehl und Brot zum Beispiel wird mittlerweile zu weiten Teilen von Großbäckereien umgesetzt. Wie viele Bäckereien backen in Städten noch selbst? Die Verteilung von Lebensmitteln erfolgt über Supermarktketten, die von einer funktionierenden Logistik abhängig und auf globale Lieferketten ausgelegt sind. Im Zweifel wird das zum Problem, wenn die Schienen, Straßen oder das Flugnetz für den Transport von militärischem Gerät ausgelastet sind, wenn Lieferketten gestört oder unterbrochen werden.
Ein weiteres Problem betrifft die Abhängigkeit von ausländischen Lkw-Fahrern. Viele stammen aus Osteuropa und könnten im Krisenfall nicht verfügbar sein, da sie längst in ihren Heimatländern sind, weil sie ihren Militärdienst leisten. Deutschland hätte dann Schwierigkeiten, die eigene Logistik aufrechtzuerhalten, wenn es an Fahrern fehlt.
WELT: In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie verschiedene mögliche Ernstfälle. Könnten Sie einige davon skizzieren?
Gehringer: Eines der Szenarien wäre beispielsweise, dass auf russischem oder belarussischem Staatsgebiet militärische Bewegungen zu beobachten sind. Die dortigen Regierungen sagen zwar, es handele sich nur um Militärübungen, aber die Nato reagiert aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit wachsam und trifft Vorbereitungen für eine Invasion.
Ein zweites Szenario geht von gezielten Desinformationskampagnen gegen kritische Infrastruktur aus, insbesondere gegen das Finanzsystem. Dabei werden gefälschte Nachrichten in sozialen Netzwerken gestreut und gezielte Proteste inszeniert, um Unsicherheit zu erzeugen.
In anderen Szenarien beschreiben wir Cyberangriffe auf kommunale und kritische Infrastruktur. Das kann von der Sperrung kommunaler Dienste bis zu Sabotage an Strom-, Telekommunikations- oder Bahninfrastruktur reichen. Entscheidend dabei ist aus unserer Sicht, dass wir militärische Entwicklungen an der Ostflanke und hybride Angriffe in Deutschland auf Infrastruktur und Kommunikation nicht strikt trennen können. Sie vermischen und überlagern sich, wenn es sich ganz schlecht entwickelt.
WELT: Welche Maßnahmen würden Sie Bürgern empfehlen, um auf Krisensituationen vorbereitet zu sein?
Gehringer: Das Thema Prepping ist in Deutschland, auch wenn es sich durch die Corona-Zeit etwas gebessert hat, ein Stück weit negativ besetzt. Das macht es schwer, darüber ehrlich und ernsthaft zu sprechen. Das liegt auch daran, dass die Empfehlungen des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe recht hoch gegriffen sind. So empfiehlt das BBK, dass die Grundversorgung, die man im Haus vorrätig halten sollte, zehn Tage ausreichen muss. Das kann schon abschrecken. Insbesondere wenn mehrere Personen in einem Haushalt leben, kann das schnell zu Platzproblemen führen.
Es ist in meinen Augen schon ein guter Fortschritt, wenn man eine Isolationsphase von 72 Stunden ernst nimmt und dafür Vorsorge betreibt. Wer in diesen ersten Stunden unabhängig und autark ist, beispielsweise was die Wasserversorgung, die Ernährung sowie Strom- und Heizmaterial angeht, kann die Katastrophenschutzbehörden entlasten. Die können sich dann auf die Hauptprobleme der Krise fokussieren.
Wichtig ist, wirklich zu verstehen, dass, wenn wir uns in der Breite der Gesellschaft vorbereiten, wir andere entlasten und die sich dann um „größere oder entscheidendere Fragen“ kümmern können – zum Beispiel um die Versorgung von Altenheimen, Pflegeeinrichtungen oder kleineren Krankenhäusern mit den wichtigsten Produkten.
WELT: Vor dem Ukraine-Krieg waren militärische Überlegungen in Deutschland fast tabu, heute spricht man offener über Verteidigung. Dennoch: Kann man über Krisenvorsorge und den Ernstfall sprechen, ohne Angst zu erzeugen?
Gehringer: Wir wollen mit unserem Buch weder Panik machen noch Angst schüren, sondern zeigen, dass sich die sicherheitspolitische Lage verändert hat. Der Krieg in der Ukraine ist nah. Russische hybride Angriffe geschehen häufig auch in Deutschland. Da ist es unmöglich, von einem Zustand im Frieden zu sprechen. Wir befinden uns in einem hybriden Konflikt. Viele Menschen fühlen sich unzureichend informiert, und wir wollen mit unserem Buch dazu beitragen, das zu ändern. Trotzdem haben wir Verständnis dafür, wenn das Menschen kritisieren und ungern über das Thema sprechen wollen. In keinem Fall wollen wir einen Krieg herbeireden, sondern informieren und beschreiben. Wir wollen lediglich die Resilienz innerhalb der Gesellschaft stärken.
WELT: Sie haben Russland als Akteur hybrider Angriffe genannt. Welche Staaten nehmen Deutschland noch ins Visier?
Gehringer: Der Iran versucht, in Deutschland gegen Regime-Kritiker oder auch gegen jüdische und israelische Einrichtungen vorzugehen. Nordkorea intensiviert die Bemühungen in Europa, mit einer Verzahnung aus Cyberkriminalität und staatlicher Spionage Wirtschaftsunternehmen zu schaden, und auch China versucht immer wieder, an Informationen durch Spionage zu gelangen, und bereitet möglicherweise auch Sabotageakte vor. Wenn es um politische Einflussnahme geht, dann darf man auch die Türkei nicht vergessen. In Deutschland lebt ein großer Teil der türkischen Diaspora, sodass die Regierung von Erdogan erhebliches Interesse daran hat, über Kampagnen Einfluss auf sie auszuüben. Diese Entwicklungen beobachten wir nun schon eine Weile.
WELT: Greift denn auch Deutschland andere Länder hybrid an?
Gehringer: Von hybriden Angriffen würde ich nicht sprechen. Natürlich versucht auch Deutschland, Einfluss zu nehmen. Wir versuchen unsere Werte, für die wir stehen, in andere Länder der Welt zu tragen. Aber das geschieht einerseits auf Basis rechtsstaatlicher Grundsätze, und andererseits agiert Deutschland hierbei sehr zurückhaltend, defensiv und keinesfalls aggressiv. Das ist also nicht mit Russland oder China zu vergleichen.
WELT: Bei der Vereitelung von Anschlägen hört man immer wieder, dass andere Nachrichtendienste Deutschland wichtige Informationen liefern. Wie abhängig sind wir von unseren Partnern?
Gehringer: Die Partnerschaften, von denen wir leben, stehen zum Teil auf sehr wackligen Füßen, weil wir im nachrichtendienstlichen Bereich aktuell nicht beitragsfähig sind. Das muss man so klar sagen. Wir liefern äußert wenig hilfreiche Informationen, sodass wir für andere Länder nicht unbedingt als interessanter Partner gelten. Da müssen wir besser werden. Wir profitieren dagegen von ihnen, aber ich glaube, dass kann immer weiter bröckeln. Zumindest was die USA angeht. Die Logik von Donald Trump funktioniert nach dem Motto: Wenn du uns etwas geben kannst, dann geben auch wir dir etwas. Wenn man diese Rechnung aber so aufmacht, sieht es für Deutschland nicht gut aus. Sukzessive könnten wir immer weniger vom Kuchen abbekommen.
WELT: Was befürchten Sie konkret?
Gehringer: Wenn die US-Regierung eines Tages entscheiden sollte, dass wir keine Warnungen vor terroristischen Plänen, Informationen über Gefährder oder auch über Truppenbewegungen bekommen, wenn sie sagen, wir bekommen auch nicht mehr ihre Satellitendaten, dann sind wir eigentlich fast blind. Wir haben nur ganz wenig eigene Satelliten zum Beispiel. Das wäre dann nicht ausreichend, um dauerhaft für Sicherheit zu sorgen. Wir müssen in diesen Zeiten realistisch darauf blicken und in eigene Satelliten-Infrastruktur investieren.
Ferdinand Gehringer veröffentlichte kürzlich mit Johannes Steger das Buch „Deutschland im Ernstfall. Was passiert, wenn wir angegriffen werden“.
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.
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