„KI gefährdet zum Teil auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer, etwa Programmierer oder Juristen“
Ludger Wößmann, 52, ist Leiter des Zentrums für Bildungsökonomik am Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
WELT: Herr Wößmann, die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem großen Transformationsprozess. Welche Entwicklungen sind momentan die größte Herausforderung für den Arbeitsmarkt und damit auch für die Bildung?
Ludger Wößmann: Wir sprechen von den drei großen Ds im Transformationsprozess: Digitalisierung, Dekarbonisierung und demografischer Wandel. Wahrscheinlich ist die Digitalisierung der größte Brocken. Mit der Künstlichen Intelligenz kommen ganz neue Herausforderungen auf uns zu, die Veränderungsprozesse sind hier besonders groß. Aber auch die Entkopplung von fossilen Brennstoffen verändert die Anforderungsprofile bei der Arbeit.
Der demografische Wandel hingegen begleitet uns schon lange. Problematisch ist hierbei vor allem, dass es einer alternden Gesellschaft wie der unseren deutlich schwerer fällt, sich auf Wandel einzulassen. Zudem erfordert die starke Zunahme der Migration Anpassungsprozesse in Bildungs- und Wirtschaftssystem.
WELT: Welche Berufsbilder sind mit Blick auf Digitalisierung und KI besonders betroffen?
Wößmann: In den letzten zehn, 20 Jahren waren es vor allem Routinetätigkeiten, die wegautomatisiert und wegdigitalisiert wurden. Hoch qualifizierte Jobs waren zunächst nicht so stark betroffen. Das hat sich inzwischen gewandelt. Viele geringqualifizierte Jobs wie Lieferdienste oder Nachtwächter lassen sich nicht einfach einsparen. Stattdessen sind durch KI jetzt zum Teil auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer gefährdet, etwa Programmierer oder Juristen. Die offene Frage ist, inwieweit die KI hier Arbeitsplätze ersetzt – oder inwiefern sie komplementär genutzt wird und die Beschäftigten einfach noch produktiver macht. Juristen können zum Beispiel sehr viel effizienter arbeiten, wenn die KI ihnen Fälle recherchiert und aufarbeitet. Ganz ähnlich ist es in der Medizin: Die KI kann Röntgenbilder schneller und besser auswerten. Die Ärzte können so produktiver arbeiten – ein wichtiger Aspekt in unserer alternden Gesellschaft.
Wir Wissenschaftler können aber nur Trends beschreiben. Vorhersagen sind schwer zu treffen – dafür sind die Entwicklungen gerade in Sachen KI viel zu rasant. Das bedeutet aber auch, dass der Wandel nicht nur von der nachwachsenden Generation von Arbeitskräften getragen werden kann. Auch die bestehenden Belegschaften brauchen eine hohe Veränderungsbereitschaft.
WELT: Was bedeutet der von Ihnen beschriebene Wandel für das Bildungssystem? Welche Anpassungen sind nötig, und auf welche Kompetenzen kommt es besonders an?
Wößmann: Wir wollen die Kinder auf das Leben vorbereiten. Da wir nicht wissen, wie die Welt in zehn, 20 oder 30 Jahren aussieht, bedeutet das vor allem, sie in die Lage zu versetzen, mit Wandel umzugehen. Dazu braucht es zwei Dinge: Zum einen sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Basiskompetenzen, um die Fähigkeit zu haben, immer wieder etwas Neues zu erlernen. Das sieht man auch im Ländervergleich. Die Bildungsleistung der Bevölkerung bestimmt über drei Viertel der langfristigen Unterschiede im Wirtschaftswachstum. Und zum anderen Anpassungsfähigkeit, Problemlösungskompetenz und Kreativität, um Problemstellungen von Grund auf zu durchdringen. Denn das nimmt einem ChatGPT nicht ab.
Vor allem brauchen wir das Mindset, dass es nicht reicht, mit 18 die Schule abzuschließen und dann 50 Jahre im selben Job zu arbeiten. Jeder von uns muss immer bereit sein, sich an Veränderungen anzupassen und neue Dinge zu lernen.
WELT: Wie muss dann die berufliche Ausbildung angelegt sein, um lebenslang davon zu profitieren?
Wößmann: Sie muss eher breit angelegt sein als zu speziell. Auch in der beruflichen Ausbildung muss es klarer um die Vermittlung von Basiskompetenzen und das „Lernen zu lernen“ gehen. Wenn man sich zu sehr auf Spezialfähigkeiten fokussiert, dann ist die Gefahr groß, dass einiges davon in zehn Jahren schon nicht mehr nachgefragt wird. Wichtig ist auch, dass wir schneller darin werden, die Ausbildungsordnungen anzupassen. Im Schnitt dauert es über 15 Jahre, bis eine Berufsausbildungsordnung aktualisiert wird. Das ist deutlich zu lang bei der Schnelligkeit des Wandels der Berufsbilder.
WELT: Klingt so, als wäre lebenslanges Lernen wichtiger denn je. Lässt sich das institutionalisieren?
Wößmann: In der Tat, wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, lebenslang immer weiterzulernen. Das passiert leider noch nicht in ausreichendem Maße. Im Gegenteil: Die betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen sind in der Corona-Pandemie eingebrochen und sind bis heute noch nicht wieder auf dem alten Niveau. Aber es geht nicht nur um Weiterbildung im Job. Manche Berufe verschwinden auch ganz.
WELT: Was ist zu tun?
Wößmann: Wir können es uns nicht leisten, Leute mit 40 oder 45 Jahren in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Was wir brauchen, ist ein effektives Umschulungssystem. Es bringt wenig, einen Menschen in der Mitte seines Lebens zusammen mit 18-Jährigen auf die Berufsschulbank zu setzen. Die Menschen haben ja viele Kompetenzen, die man im Berufsleben braucht, bereits erworben und können entsprechend schneller umgeschult werden. Sie müssen dann aber auch ein vollwertiges Abschlusszertifikat bekommen. Hier braucht es entsprechende Vereinbarungen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Politik. Und natürlich kann man Menschen in der Mitte ihres Lebens, die vielleicht eine Familie zu versorgen haben, nicht mit einem Azubi-Gehalt abspeisen. Das muss staatlich mitfinanziert werden. Wenn die Leute anschließend wieder einen Job haben und Steuern zahlen, zahlt sich das auch aus.
WELT: Aber die zunehmende Alterung birgt ja auch Risiken. Verlieren die Menschen im Laufe ihres Lebens nicht automatisch an Kompetenzen? Zumindest an klassischem Schulwissen?
Wößmann: Davon ist man lange ausgegangen. Beim sogenannten Erwachsenen-Pisa kann man messen, dass die Testpersonen bei alltagsmathematischen oder sprachlichen Aufgaben bereits ab Anfang 30 schlechter abschneiden als Jüngere. Das Problem ist dabei aber, dass unterschiedliche Altersjahrgänge mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen miteinander verglichen werden. Betrachtet man die Längsschnittdaten, also ein und dieselbe Gruppe von Menschen im Lebensverlauf, dann sieht man, dass der Kompetenzverlust erst ab Mitte 40 langsam losgeht. Bei den Menschen aber, die ihre erworbenen Kompetenzen regelmäßig anwenden und sich immer neu herausfordern, etwa indem sie ihre Kompetenzen im Alltag nutzen, steigen sie sogar bis zu einem Alter von 65 Jahren noch an. Bei denen sehen wir kein kognitives Altern. Man könnte es auf die Formel bringen: „Use it or lose it“.
WELT: Ist das auch ein Argument für längere Lebensarbeitszeit?
Wößmann: Es bedeutet zunächst nur, dass es rein aufgrund der kognitiven Fähigkeiten kein Naturgesetz gibt, ab einem gewissen Alter in Rente zu gehen. Die Frage des Renteneintrittsalters wird eher von der Frage der Finanzierbarkeit unserer sozialen Sicherungssysteme bestimmt. Wenn man sich die Berechnungen anschaut, wird klar, dass wir aus ökonomischer Sicht tatsächlich länger arbeiten müssten – da wir ja auch immer älter werden. Umso wichtiger ist es, dass wir auch im höheren Alter bereit sind, uns noch neue Fähigkeiten anzueignen. Ich glaube nicht, dass die Veränderungsgeschwindigkeit noch einmal abnimmt. Wir müssen alle das Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir ein Leben lang lernen müssen.
Sabine Menkens berichtet über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.
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