Ben Salomo ist jüdischer Rapper und Autor. Er wurde in Israel geboren und wuchs in Berlin auf, wo er heute auch lebt. In der deutschen Rap-Szene machte er sich einen Namen als Veranstalter von „Rap am Mittwoch“, wo prominente Rapper wie Sido, B-Tight und Kool Savas auftraten. Er beendete die Veranstaltungen wegen zunehmendem Antisemitismus in der Szene.

Seit einigen Jahren tourt er durch Schulen und spricht mit Schülern über Judenhass. Die Erfahrungen beschreibt er in seinem Buch „Sechs Millionen, wer bietet mehr“, das in den nächsten Tagen erscheint und dem dieser Text als Vorabdruck entnommen ist:

„Seit 2019 gehe ich bereits an Schulen und kläre über Antisemitismus auf, und in all den Jahren sah ich die Kufiya während meiner Vorträge eher selten. Das hat sich jedoch seit dem 7. Oktober 2023 deutlich geändert. Insofern hat der Hamas-Überfall auf Israel offensichtlich auch Folgen für Modetrends an Schulen, jedenfalls unter Schülern, die sich als eine Art Debatten-Elite verstehen.

Die Kufiya und ihre Bedeutung sind Teil meines Vortrags. Ich zeige Bilder von PLO-Gründer Yassir Arafat mit Kufiya und Bilder von Rappern, die sich damit ablichten lassen. Massiv, Haftbefehl, Kollegah, Bushido, Deso Dogg. Ich erkläre den Schülern, dass sie kein beliebiges Kleidungsstück ist. Dass jemand noch nie von der Kufiya gehört hatte, kam noch nie vor. Aber die Kenntnisse sind fast immer nur fragmenthaft. Immer wieder sind Schüler und Lehrer verblüfft, wenn sie mehr über die Geschichte des Tuches hören.

Wenn ich die Kufiya also bei meinen Schülern sehe, dann hat das Folgen, vor allem seit dem 7. Oktober. Davor war es mir auch schon unangenehm, das Tuch zu sehen. Danach aber hatte ich die Bilder des Massakers im Kopf. Die Täter, die dieses Kleidungsstück trugen. Die, die in westlichen Städten die Plakate der entführten Israelis von den Wänden rissen, die Kufiya um den Hals. Und dann die Hunderttausenden weltweit, die sich mit der Hamas und ihren Bluttaten solidarisierten.

Ich sehe das Tuch als antisemitischen, islamistischen und terroristischen Dresscode. Ein Erkennungszeichen, das ich an Schulen nicht mehr einfach wegatmen kann. Das sollte auch niemand von mir verlangen.

Darum änderte sich auch mein Umgang damit. Zuerst spreche ich die Schüler darauf an. Ich frage, was sie über Herkunft und Entstehungsgeschichte wissen. Meistens kaum etwas. Sie nennen unpolitische Attribute: Symbol für rebellische Haltung, Kultur, dergleichen. Ob sie den Hintergrund und die Geschichte kennen? Die meisten sagen dazu nur wenig. Sie versuchen, die Symbolik des Tuches kleinzureden oder es kulturell zu verklären. Die Bedeutung im Nahost-Zusammenhang sei ihnen nicht bewusst. Inzwischen bitte ich darum, dass sie das Tuch während des Vortrags ablegen. Nur selten weigern sie sich.

Vom Großmufti zu Yallah-Yallah-Intifada-Protestierern

Inzwischen ist es so, dass die Kufiya tatsächlich körperlich auf mich einwirkt. Das ist kein Witz. Das Tuch erlebe ich nun als eine Einschüchterung und Machtdemonstration. Ich ahne, welche Ansichten sein Träger vertreten wird (und habe mich kein einziges Mal geirrt). Ich verstehe die Kufiya so wie ihre Schöpfer, und damit meine ich jene, die sie als politisches Symbol einführten, es beabsichtigten.

Der Erste, der sie für diese Zwecke verteilte, war der Großmufti von Jerusalem. Wer sie trug, war vor seinen Schergen halbwegs sicher und als Feind der Juden erkennbar. Wer sie nicht trug, musste sich sorgen. Sieht man die Kufiya um die Schreihälse der Yallah-yallah-Intifada-Protestierer in deutschen Großstädten nach dem 7. Oktober und hört „From the River to the Sea“, dann ist klar, dass der Sinn dieses Stücks Stoff noch derselbe ist wie zu Zeiten des Mufti. Ich bin nicht der einzige Jude, der angesichts der Kufiya nervös wird und die Dimension der antisemitischen Gewalt dahinter wahrnimmt.

Dieses Tuch wirkt auf mich so, wie – jedenfalls nach meiner Vorstellung – der Anblick der Braunhemden Ende der 1920er- und 1930er-Jahre auf Juden gewirkt haben muss. Darum also meine Versuche, das Tuch außer Sicht zu bekommen.

Wenn das alles nicht hilft, dann drohe ich, den Vortrag abzubrechen oder erst gar nicht zu beginnen. Das ist sehr selten vorgekommen, aber schon passiert.

Es war im März 2025, eineinhalb Jahre nach dem Hamas-Überfall auf Israel. Eine Schule im Südwesten. Gymnasium. Kleinstädtisches Milieu. Vielleicht ein paar mehr Migranten als im Durchschnitt. Im Ganzen um die 150 Schüler, alle so um die 15 oder 16 Jahre alt. Mir fallen zwei biografiedeutsche Mädchen auf. Die eine trägt die Kufiya um den Hals, dazu ein Che-Guevara-T-Shirt. Die andere kramt in ihrem Rucksack, zieht dann ebenfalls ein Pali-Tuch hervor und legt es sich um. Normalerweise ist es umgekehrt: Schüler, die Kufiya tragen, verzichten eher darauf, wenn sie zum Vortrag bei mir erscheinen. Diese beiden legten die Kufiya dagegen an, um sie mir zu zeigen.

Als ich das sehe, fällt meine körperliche Reaktion stärker aus als normalerweise. Ich bekomme tatsächlich Herzrasen. Ich versuche, ruhig und gleichmäßig zu atmen, aber dieses Mal fällt mir das Wegatmen schwerer. Der Vortrag hat noch nicht begonnen.

Wie üblich bin ich zusammen mit einem Moderator der Friedrich-Naumann-Stiftung unterwegs. Seine Rolle besteht darin, mich vorzustellen und für den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu sorgen. Jetzt bitte ich ihn, zu den beiden Mädchen zu gehen und sie zu bitten, die Tücher abzulegen. Er sieht es genauso wie ich und spricht sie an. Aus der Distanz sehe ich sie diskutieren. Die Lehrer haben noch nichts mitbekommen. Nach einer Weile wird klar: Die beiden Mädchen bleiben stur.

Die Diskussion weitet sich aus. Lehrer werden aufmerksam. Vor allem eine Lehrerin redet mit den beiden. Der Rektor kommt auch dazu. Mein Kollege kehrt zu mir zurück und berichtet: Die beiden lehnen es ab, die Kufiya abzunehmen. Ich sage den Lehrern, dass ich nicht beginnen kann, wenn die Tücher sichtbar bleiben.

Das Tuch blieb am Hals

Derweil diskutieren die Lehrer weiter mit den beiden Schülerinnen – und erzielen einen ersten Erfolg. Eine der beiden nimmt das Tuch ab. Die andere bleibt hart – inzwischen unter Tränen. Aber sie bleibt hart und das Tuch an ihrem Hals.

Mein Kollege hat eine Idee für einen Ausweg: Nicht ich, sondern er werde den Vortrag beginnen, und zwar mit einer Geschichte der Kufiya. Die gehört eh zum Repertoire. Wir haben eine Reihe Folien, auf denen Hamas- oder Hisbollah-Terroristen mit dem Tuch zu sehen sind. Auf einem recken Hamas-Leute die Arme hoch zum Hitlergruß, und zwar zum echten, ausdrücklich zu Ehren Adolf Hitlers. Er zeigt auch einen Screenshot der Fabrik, die als letzte verbliebene im Westjordanland die echte, wahre Kufiya produziert. Auf ihrer Website wirbt sie mit dem Foto der Terroristenlegende Leila Khaled.

Er erklärt auch, wie der Großmufti Mohammed Amin al-Husseini die Kufiya in den 1930er-Jahren im britischen Mandatsgebiet Palästina verteilte und mit Gewalt durchsetzte. Und wie sein Nachfolger Yassir Arafat den Schal im Westen verbreitete. Wie der Schal unter linken Studenten und Schülern populär wurde. Dass er aber auch von rechten Antisemiten getragen wird. Wir haben dazu ein Foto eines Neonazis, aufgenommen auf einer Palästinenserdemo 2014, der ebenfalls eine Kufiya trägt. Es sind eigentlich alles nur kühle Fakten, die mein Kollege vorträgt. Das Mädchen bleibt hart und die Kufiya an ihrem Hals.

Dann ergreift der Rektor das Wort. Wir hätten hier einen Gast, sagt er. Er meint mich. Wir sollten es diesem Gast überlassen, wie er die Kufiya deute. Er sei doch der Betroffene, ihm komme darum die Deutungshoheit zu. Keine Reaktion bei dem Mädchen. Der Rektor verschießt seine letzte Patrone: Entweder ihr wollt den Vortrag sehen, oder ihr wollt den Schal anbehalten. Schal anbehalten bedeute, den Raum zu verlassen.

Aufgeben will ich das Mädchen noch nicht. Ich nehme das Mikrofon und versuche, ihr meine Sicht selber darzulegen. Ich sage, dass ich mit den einschlägigen Slogans seit meiner Kindheit konfrontiert werde. Hui … da wird die Schülerin plötzlich laut und emotional. Sie habe sich meine Instagram-Seite und mein Profil auf X angeschaut. Sie sprudelt eine ganze Kaskade an Vorwürfen heraus. Soweit ich das erkennen kann, liest sie ihren Text ab. Sie wird dabei immer schriller. Ab und zu versuche ich, irgendwelche kühlenden Fakten einzuwerfen. Sie trägt vor, ich wäre im Podcast von Mathias Döpfner aufgetreten, dem Vorstandsvorsitzenden der ‚Springerpresse‘. Offenbar meint sie diesen inhaltlich zutreffenden Satz als Vorwurf. Delegitimiert bei der Gelegenheit also auch ein Medienunternehmen, das politisch auf einer anderen Seite stehen mag als sie.

Als sie fertig ist, meldet sich ihre Freundin. Sie meint, über die Historie des Tuches habe sie gar nichts gewusst. Vom Großmufti habe sie gerade zum ersten Mal gehört. Von Yassir Arafat habe sie keine Ahnung. Sie finde es gut, sich damit jetzt auseinanderzusetzen. Aber für sie selbst bedeute das Tuch etwas ganz anderes. Es habe einen Bedeutungswandel erfahren. Man könne es nicht mit den Ereignissen verknüpfen, mit denen es Ben Salomo verknüpfe.

Mein Kollege fragt, wann sich dieser Bedeutungswandel denn vollzogen habe. Da fängt sie an zu stottern, und damit ist die Diskussion abrupt beendet. Die eine der beiden bricht jetzt in Tränen aus, und die beiden Mädchen verlassen aufgelöst die Halle. Ein gutes Dutzend weiterer Schüler folgt ihnen. Die Stimmung ist jetzt richtig schlecht.

Aber da muss ich jetzt durch. Trockener Mund, schwitzende Hände, immer noch beschleunigter Puls. Ich erzähle meine Geschichte, die ersten Begegnungen mit Judenhass auf dem Hof, dann in der Schule und später in der Rap-Szene. Ich sage, dass bei Diskriminierung die Betroffenheitsperspektive besonders zählen sollte. Wenn Frauen sagen, sie fühlten sich belästigt, dann sollte man das ernst nehmen. Und wenn Juden sagen, sie fühlten sich angegriffen, dann sollte man das genauso ernst nehmen.

Ich erzähle von meinem Großvater und wie er mir als Kind erzählte, wie ihm mit elf Jahren seine Zähne von einem Wehrmachtssoldaten mit dem Gewehrkolben ausgeschlagen wurden. Ich zeige ihnen die aktuelle Statistik der amerikanischen Anti-Defamation League, die besagt, dass 46 Prozent der Weltbevölkerung inzwischen antisemitische Überzeugungen in sich tragen. Es ist eine ziemlich frostige Veranstaltung. Keine meiner Pointen zündet richtig. Bei den Mitmachaktionen beteiligen sich viel weniger als sonst.“

Das Buch und dieser Text entstanden in Zusammenarbeit mit WELT-Autor Christoph Lemmer.

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