„Man kann diesen Prozess nennen, wie man will, aber nicht Wahlen“
Es ist ein historischer Moment“, sagte der syrische Präsident Ahmed al-Scharaa, nachdem er am Sonntag die Stimmabgabe zu den Parlamentswahlen in der Nationalbibliothek von Damaskus inspiziert hatte. Das neue Parlament sei ein mutiger Schritt nach vorn, erklärte er in seiner Rede und begrüßte die Tatsache, dass das Land „in nur wenigen Monaten einen Wahlprozess durchführen konnte, der den aktuellen Umständen angemessen ist“. Nun könne man über viele ausstehende Gesetze abstimmen, um den Prozess des Aufbaus und des Wohlstands voranzutreiben, betonte der Interimspräsident.
Ohne Zweifel sind die Wahlen ein bedeutender Einschnitt in der Geschichte des Landes. Fünf Jahrzehnte lang mussten die Syrer unter der Diktatur der Assad-Familie leiden und konnten die brutale Herrschaft erst nach 13 Jahren Bürgerkrieg abschütteln. Ob das neue Parlament allerdings tatsächlich stabile Verhältnisse und ein Ende der Wirtschaftskrise bringen kann, bleibt offen.
Zum einen haben die USA noch immer nicht alle Wirtschaftssanktionen aufgehoben und es ist nicht klar, ob und wann dies geschehen soll. Auch wurden zahlreiche Memoranden, die die syrische Regierung mit Investoren aus dem Ausland abgeschlossen hatte, nicht erfüllt. Letztendlich kein Wunder, schließlich ist Syrien auch zehn Monate nach dem Umsturz nicht zur Ruhe gekommen.
Nach den Massakern der syrischen Regierungsmilizen an Alawiten und Drusen im März und Juli, bei denen mehr als 2000 Menschen ums Leben kamen, gehen die Racheakte gegen die ethnisch-religiösen Minderheiten weiter. So waren etwa vergangene Woche drei Christen von maskierten Bewaffneten auf einem Motorrad im Wadi al-Nasara, dem Tal der Christen, auf offener Straße ermordet worden.
Im Nordosten Syriens stehen die Zeichen sogar auf Krieg. Erst am Sonntag war es erneut zu Gefechten zwischen Regierungstruppen und den Streitkräften der von Kurden dominierten Autonomieverwaltung Nordostsyriens (AANES) westlich des Euphrats gekommen. Damaskus ließ alle Straßen zum AANES-Gebiet absperren, obwohl es etwa ein Drittel Syriens umfasst und bis an die irakische Grenze reicht.
Die Parlamentswahlen waren keine direkten Wahlen, wie man sie sonst in einem demokratischen Verfahren mit Parteien erwarten würde. Zum einen ernennt al-Scharaa ein Drittel der insgesamt 240 Abgeordneten der Volksversammlung selbst. Die verbleibenden 140 Sitze wurden auf Basis eines Auswahlsystems bestimmt. Ein ebenfalls von al-Scharaa ernanntes Oberstes Wahlkomitee setzte lokale Subkomitees ein, die in jedem der 60 Wahlkreise ein Wahlkollegium zusammenstellten.
Letztere wählten dann die Kandidaten aus und stimmten schließlich am Sonntag darüber ab, wer eine Fahrkarte nach Damaskus bekam. Insgesamt waren es rund 6000 syrische Bürger, die aus insgesamt 1578 Kandidaten die Abgeordneten des neuen Parlaments wählten. Die Volksversammlung soll 30 Monate im Amt bleiben, bis direkte Wahlen möglich sind.
Kritik am indirekten Wahlsystem
Nawar Nejmeh, Sprecher des Wahlausschusses, rechtfertigte das Wahlsystem damit, dass es zum gegebenen Zeitpunkt „unmöglich“ sei, eine direkte Volksabstimmung durchzuführen. Viele Bürger seien noch immer vertrieben, besäßen keine Ausweispapiere und es gebe keine genauen Volkszählungs- oder Wählerverzeichnisse.
Kritiker der neuen Regierung in Damaskus behaupten jedoch, die Wahlen sollten nur die Legitimität des „islamistischen Regimes“ stärken und darauf abzielen, westliche Länder zu beschwichtigen, um Unterstützung und Hilfe zu erhalten. „Es wiederholen sich die diktatorischen Praktiken des Assad-Regimes“, sagte Zaid Azem, ein syrischer Anwalt und politischer Aktivist in Paris, dem TV-Sender France24.
„Man kann diesen Prozess nennen, wie man will, aber nicht Wahlen“, sagte auch Bassam Alahmad gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Er ist Geschäftsführer der ebenfalls in Frankreich ansässigen Organisation Syrians for Truth and Justice. Abgesehen von der Kritik am indirekten Wahlsystem, das vom Präsidenten dominiert ist, kam es auch bei der lokalen Auswahl von Kandidaten häufig zu Unregelmäßigkeiten.
Berichten zufolge wurden einige ohne Begründung von der Wahlliste gestrichen, andere wurden gar nicht berücksichtigt – zugunsten von sozial und wirtschaftlich einflussreichen Persönlichkeiten. Einige Nahost-Experten argumentierten trotzdem, dass die Wahlen unter den gegebenen Umständen selbst in ihrer begrenzten Form ein wichtiger und positiver Schritt für Syrien seien.
In drei Regionen durfte nicht gewählt werden, was zusätzlich für Kritik sorgte. Statt der eigentlich geplanten 140 Parlamentssitze wurden dadurch nur 121 vergeben. Betroffen waren die überwiegend von Drusen bewohnte Provinz Suweida sowie Rakka und Hasaka, die Teil des Gebiets der AANES sind. Aus „Sicherheitsgründen“, erklärte die Regierung. Jedoch dürfte der wahre Grund für den Ausschluss eher politischer Natur sein.
Denn die Autonomiebehörde Nordostsyriens hatte bereits nach der Selbsternennung al-Scharaas zum Übergangspräsidenten im Januar darauf beharrt, autonom im Rahmen eines pluralistisch ausgerichteten Systems bleiben zu wollen. Dies steht im Widerspruch zu dem starken Zentralstaat, den die Regierung anvisiert.
Israel als Schutzmacht der Drusen
Die Drusen fordern ebenfalls Unabhängigkeit und Pluralismus – allerdings erst seit den Überfällen der Regierungstruppen im Juli, bei denen viele Hunderte Bewohner Suweidas ermordet worden waren. Damals bewahrte eine Militärintervention Israels die Drusen vor weiteren Massakern. „Wir werden nicht zulassen, dass den Drusen Schaden zugefügt wird“, hatte der israelische Premierminister erklärt.
Israel als Schutzmacht kommt bei den überwiegend islamistischen Mitgliedern der Regierung schlecht an, obwohl sich Damaskus selbst in Verhandlungen mit Jerusalem über ein Sicherheitsabkommen befindet. Israel hat das Nachbarland Syrien immer wieder bombardiert und seine 75 Kilometer lange Pufferzone bei den Golanhöhen ausgeweitet. Die israelischen Streitkräfte stehen mittlerweile nur noch etwa 25 Kilometer vor Damaskus.
„Es ist für Syrien historisch“, schreibt Cédric Labrousse, ein promovierter Syrien-Spezialist auf X voller Optimismus, nachdem die ersten Wahlergebnisse bekannt wurden. Er sah unter den Gewinnern der Wahlen eine Mischung aus „Liberalen, Sozialdemokraten, konservativen Republikanern, Angehörigen der Muslimbruderschaft, ehemaligen Mitgliedern des Assad-Regimes und der ursprünglichen Freien Syrischen Armee (FSA)“.
Keiner der islamistischen Hardliner, die al-Scharaa mit ihrem Kampf gegen das Assad-Regime an die Macht gebracht hatten, sei gewählt worden, behauptete Labrousse. „Damit hat al-Scharaa die Konservativsten, die Härtesten und Religiösesten an den politischen Rand gedrängt.“ Er meint damit die extremistischen Kräfte, die einem Staatsmodell wie etwa dem der Taliban in Afghanistan nacheifern.
Ganz so positiv, wie Labrousse argumentiert, dürfte die Lage allerdings nicht sein. Die radikalen Milizen besitzen weiter großen Einfluss und al-Scharaa ist militärisch auf sie angewiesen. Auch die wahre Haltung des Präsidenten, was etwa die kurdische Minderheit Syriens betrifft, wurde jüngst wieder ersichtlich.
Als er per Dekret die nationalen Freitage in Syrien neu bestimmte, ließ er das kurdische Neujahrsfest Newroz aus. Dabei machen Kurden etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Bei der Wahl gab es zwar drei kurdische Gewinner in der Region Afrin. Allerdings stehen sie dem Kurdischen Nationalrat (KNC/ENKS) nahe. Vertreter der Partei PYD, die auch in Nordostsyrien an der Verwaltung beteiligt ist, kamen nicht zum Zug.
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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