Die Getöteten wurden zum Treibstoff, der das Feuer in uns entfachte
Mein Name ist Ofri Etta Reiner. Ich wurde 2002 in Israel geboren. Eine Zeit, die sich wegen der explodierenden Busse und Selbstmordattentäter in Restaurants ins nationale Bewusstsein eingebrannt hat. Trotzdem wuchs ich in Jahren vergleichsweiser Ruhe auf – vielleicht einer der Gründe, warum mich der 7. Oktober mit solcher Wucht traf.
Ich bin eine Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden, vierte Generation. Ich gehöre zur letzten Generation in meiner Familie, die einige der Überlebenden noch persönlich getroffen hat. Ich wurde erzogen mit den Geschichten vom Mut meiner Großeltern und mit der Verantwortung, den jungen Staat zu schützen, der Jahrzehnte vor meiner Geburt gegründet wurde. Als Jugendliche begann ich, mich intensiv mit dem Nahost-Konflikt auseinanderzusetzen. In einem Friedenssommercamp sprach ich mit Palästinensern, Ägyptern und Jordaniern.
Der Dialog mit der „anderen Seite“ eröffnete mir die Vielzahl an Erzählungen, die den Nahen Osten prägen, und zugleich schärfte er mein eigenes israelisches, zionistisches Selbstverständnis. Ich entschied mich, Kampfsoldatin in den IDF (Israel Defense Forces) zu werden, um meine Eltern zu schützen und die Werte zu verkörpern, an die ich glaubte. Während meiner ersten Freistellung nach langer Dienstzeit überlebte ich das Nova-Musikfestival.
Fünf Freunde, darunter ich, fuhren am Freitagabend nach Reim, einem Gelände nahe der Grenze zum Gazastreifen. Dort sollte eine Trance-Party stattfinden. Ich saß auf der Rückbank, voller Vorfreude. Ein Schwall aus Musik hüllte uns ein, wir schlängelten uns auf die Tanzfläche. Ich hatte Monate darauf gewartet: die Routine und militärische Disziplin abzustreifen, mich der Freude und der archaischen Energie der Menge hinzugeben. Doch die Nacht war kurz.
Noch vor Sonnenaufgang schlugen die ersten Raketen in der Nähe ein. Es ist eine düstere Wahrheit, dass Israelis daran gewöhnt sind, Schutz zu suchen, und so taten wir es. Im Sperrfeuer redete ich mir ein, dass alles unter Kontrolle sei, dass es bald vorüber sein werde. Während wir uns vor den Raketen versteckten, durchbrachen etwa 3000 Zivilisten und bewaffnete Hamas-Terroristen den Sicherheitszaun an der Grenze und strömten nach Israel – zu Fuß, auf Motorrädern, in weißen Pickups. Nur zweieinhalb Kilometer trennten mich von der Grenze.
Zusammen mit 2500 Festivalbesuchern rannten wir zum Parkplatz und suchten verzweifelt unser Auto. Nachdem wir es gefunden hatten, rasten wir wie die meisten, die zu fliehen versuchten, nach Norden. Wenige Minuten später wurden wir von einem weißen Hamas-Pickup gestoppt, der auf vorbeifahrende Fahrzeuge schoss. Unser Freund am Steuer fasste, ohne zu diskutieren, einen Entschluss und wendete nach Süden. Wir fuhren zum Tor des Kibbuz Beeri. Dort sahen wir weitere Bewaffnete. Wir waren eingekreist.
Der einzige Weg führte zurück zum Festivalparkplatz – zurück ins Massaker. Wir fuhren langsam eine unbefestigte Straße entlang, die über den Parkplatz des Festivals führte. Eine flache Gegend, auf der einen Seite von einem Hügel umgeben, auf der anderen Seite von einem riesigen Kartoffelfeld. Bewaffnete Männer standen am Hang. Dort wurden 378 Zivilisten ermordet, erfuhr ich später. Dort verlor ich meine Unbekümmertheit. Dort zerbrach mein Glaube an den Frieden.
Jeder Schritt wurde zum Überlebenskampf
Meine Angst verwandelte sich in Schrecken. Wir versprachen uns im Auto, zusammenzubleiben. Ich stieg aus dem Auto, um mich zu erleichtern. Als mein Freund und ich das taten, wurden wir vom Hügel aus entdeckt. Sie begannen zu schießen. Erst zielten sie auf uns und sobald wir uns ins Auto gerettet hatten, zielten sie auf das Auto. Wir versuchten, querfeldein zu entkommen, doch das Auto blieb in der matschigen Erde stecken. Wir hatten keine andere Wahl, als das Auto zu verlassen und zu rennen. Zu Fuß über das offene Feld, wie Hunderte andere auch.
Wir rannten. Bewegliche Ziele der Hamas, wie Tontauben auf einem Schießstand. Ich rannte und betete, dass mich die nächste Kugel nicht treffen würde. Ich erinnere mich an jeden Schritt über die gepflügten Furchen. Ich hatte mir auf der Party den Knöchel verstaucht, und mit jedem Tritt fühlte ich, wie mein Körpergewicht mich zurückzog. Jeder Schritt wurde zum Überlebenskampf. In diesen Momenten sagte ich mir immer wieder: Ich werde nicht sterben.
Keiner von uns wusste, in welche Richtung wir rennen sollten, wo wir sicher sein könnten. Wir zerstreuten uns zwischen Bäumen, versteckten uns in Büschen, bewegten uns lautlos, um nicht entdeckt zu werden. Unter der brennenden Oktobersonne kämpften wir uns durch die versteckten Senken von Reim – dehydriert, erschöpft, voller Angst. Vier Stunden lang rannten, schlichen, gingen wir 19 Kilometer bis zu einer nahegelegenen Ortschaft.
Ich erinnere mich an Frauen, die unterwegs zusammenbrachen. An nackte, blutige Füße. Barfuß auf Naturpartys zu tanzen, ist eine Tradition der Erdverbundenheit – doch ich weiß heute: Ich werde nie wieder auf einem Festival die Schuhe ausziehen. Nur dank meiner Freunde gab ich nicht auf. Jeder von uns wurde zum Bürgen für das Leben des anderen. Unsere Fürsorge füreinander hat uns gerettet. Wir wickelten Schals um unsere Köpfe gegen die Sonne, während hinter uns schwarze Rauchschwaden aufstiegen.
Als wir endlich die Ortschaft erreichten, kamen die Bewohner aus ihren Häusern –mit Töpfen und Tellern vom Schabbatessen – und boten uns Essen und Trost an. Um sechs Uhr abends kam ich nach Hause, meine weißen Kleider braun von Staub, Asche und Erde. Ich umarmte meine Familie wortlos. Erst dann sagte mir meine Schwester, dass mein Stiefbruder vermisst werde.
Mein Stiefbruder, Shalev Dagan, diente am selben Morgen des 7. Oktober als Kampfsoldat zum Schutz des Grenzzauns. Während ich über die Felder rannte, standen er und 24 weitere Soldaten Tausenden von Terroristen gegenüber, die die Grenze durchbrachen. In einem 50-minütigen Gefecht opferten viele ihre Körper und Seelen, um unser Land zu verteidigen. Um 7:18 Uhr am Morgen traf eine Panzerabwehrrakete Shalevs Fahrzeug. Er starb sofort. Seine Kameraden, Omer Wolf und Maro Alem, entkamen dem brennenden Wagen und kämpften weiter, bis ihre Munition aufgebraucht war.
Es ist schwer, die Haltung eines israelischen Jugendlichen zu erklären, der in den Krieg zieht. Die meisten von uns tun es mit Stolz und Bereitschaft. Im vollen Bewusstsein von Risiko und Angst und doch entschlossen, unsere Familien zu schützen. Shalev schützte mich mit Körper und Geist. Die wenigen Kilometer zwischen uns beweisen es. Ohne seinen Mut wäre ich heute vielleicht nicht hier, um unsere Geschichte aufzuschreiben.
Es dauerte anderthalb Wochen, bis seine Überreste identifiziert wurden und wir ihn begraben konnten. Ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, das ganze Land sei grau geworden. Eine Stille legte sich über die Straßen. Ganze Nachbarschaften versammelten sich in Trauerhäusern, um Familien beizustehen. Nächte vor dem Fernseher. Rennen in die Schutzräume. Der Krieg hatte begonnen, mit 255 verschleppten Zivilisten, Kindern, Frauen und Alten vom Nova-Festival und aus den umliegenden Kibbuzim.
Die existenzielle Angst lag in unseren Knochen
In einem so kleinen Land, mit so engen sozialen Netzen, war jeder Vermisste ein schwarzes Loch, das den Raum verschluckte. Wir alle dachten: Das hätte ich sein können. Die existenzielle Angst lag in unseren Knochen. Hubschrauber dröhnten über uns. Keiner von uns konnte über den nächsten Tag hinaussehen und schon der war kaum auszuhalten.
Die Tage nach dem 7. Oktober sind wie ein Nebel, eine schwere Wolke über meiner Erinnerung, die nur kleine Durchblicke zulässt. Ich konnte meinen Bruder nicht betrauern. Ich konnte nicht dankbar für mein eigenes Überleben sein. Unser Schicksal schien untrennbar miteinander verbunden. Die Schuld erdrückte mich fast. „Warum er und nicht ich?“, hallte es in meinem Kopf. Nach seiner Beerdigung fühlte ich mich wie ein Geist, durchsichtig vor dem eigenen Schmerz, unfähig zu sprechen, geschweige denn zu fühlen.
Der Tod gehört seit jeher zum israelischen Leben. Menschen werden in Bars, an Bushaltestellen, in Synagogen getötet. Aber nicht in diesem Ausmaß. Und nie so nah. Was einst wie eine ferne Zukunft schien, war jetzt so nah. In diesen erschreckenden Momenten habe ich mich völlig verloren, ich war nicht mehr da. Der Tod war so mächtig. Mein Leben dagegen bedeutungslos, ein einzelnes, zerbrechliches Wesen, das jederzeit verschwinden konnte.
Es brauchte Zeit, bis ich zu heilen begann. Tage, an denen der Schmerz unerträglich war, wechselten sich mit Tagen ab, die mich retteten, an denen ich etwas Neues aus mir schöpfen konnte, an denen Trauer und Freude sich mischten. Was als kleine Kritzeleien begann, wurde zu stundenlangem Zeichnen. Ich gab mir Zeit. Die Liebe, die ich von den Menschen um mich herum bekam, ließ jede Emotion legitim erscheinen. Ich musste nur mir selbst treu bleiben, dem inneren Trümmerhaufen ins Gesicht sehen und die Teile wieder selbst zusammensetzen.
Ich kehrte zum Lesen zurück, das ich einst so geliebt hatte. Ohne mich vergleichen zu wollen, zog es mich zu Holocaust-Zeugnissen. Autoren wie Viktor Frankl, Edith Eger und Etty Hillesum wurden zu Wegweisern, die mich erinnerten: Selbst wenn einem alles genommen wird, ist es möglich, neuen Sinn im Leben zu finden. Etty zeigte mir ein Stück Himmel – einen nüchternen, radikalen Optimismus.
Was als persönlicher Weg zu einem sinnvollen Leben begann, weitete sich in meinem Denken zur Geschichte einer ganzen Nation. Ich zoomte heraus, betrachtete die jüdische Geschichte, ihre Niederlagen und Wiedergeburten. Was heute die Erde erschüttert, wird morgen zur Heldengeschichte. So wie meine Großmutter die Last ihres Judentums bis zum letzten Tag trug – krank und schwach, nach Israel eingewandert, eine Familie gegründet – so werde ich es tun. Und so werden es meine Kinder tun, die ich stolz in meinem Land aufziehen werde, bis es an ihnen ist.
Der Blick um mich ließ mich begreifen, wer Israels junge Generation ist. Die am 7. Oktober Getöteten wurden zum Treibstoff, der das Feuer in uns entfachte. Manche erleben den Krieg als Soldaten, seit zwei Jahren unfähig, sich eine Zukunft vorzustellen. Manche als Zivilisten, die sich einbringen und helfen. Manche als Trauernde, die nicht in sich zurückweichen, sondern die guten Worte ihrer Liebsten weitertragen und zu einem lebendigen Vermächtnis machen.
„Ich bin bereit, mein Leben zu opfern, damit ihr besser leben könnt“, sagte mein Bruder Shalev Monate vor dem Angriff zu seiner Mutter. Oft kehre ich zu diesem Satz zurück, um mich zu erinnern, was mein Bruder von mir verlangt hat: ein besseres Leben zu führen. Sein unvorstellbarer Verlust war der Preis, damit diese Hoffnung sich erfüllt.
Da verstand ich: Die Brücke ist gebaut
Meine Geschichte ist nur ein Komma in der Geschichte des jüdischen Volkes. Mein persönlicher Kampf spiegelt den geteilten Schmerz wider, den wir alle tragen. Mein lebendiges Zeugnis des 7. Oktober – verkörpert in einer jungen Frau, ins Erwachsensein gestoßen – ist mein Weg, Israel der Welt zu erklären. Ein Sinn von Mission erfüllte mich. Ich entschied, meine Geschichte und die meines Bruders der Welt zu erzählen.
Ein halbes Jahr lang, in mehr als 15 US-Bundesstaaten, öffnete ich die Wunde und teilte diesen Tag – 78 Mal. Ich reiste, wohnte in den Häusern von Juden in der Diaspora. Ich erhielt Umarmungen, die Kontinente überbrückten – von Jugendlichen, Kindern und Erwachsenen, in Kirchen, Universitäten und Synagogen. Jedes Mal, wenn das Erzählen mich erschöpfte, schöpfte ich neue Kraft aus dem Licht und der Stärke, die mir am Ende der Gespräche entgegen strahlte.
Menschen traten an mich heran, die Hände auf dem Herzen, Tränen in den Augen, und teilten ihr Mitgefühl. In ihren erleuchteten Gesichtern sah ich die Hoffnung, nach der sie sich sehnten. Da verstand ich: Die Brücke ist gebaut – zwischen uns, den jungen Überlebenden von heute, und den Bürgern der Welt. Lächelnde und tränenerfüllte Gesichter, persönliche Geschichten und rohe Gefühle verbinden stärker als jede politische Botschaft oder jede Nachrichtensendung.
Die jüdische Geschichte ist voller Widersprüche, voller Kämpfe und Siege, schwerer Verluste und langsamer, großartiger Erneuerung. Der Weg von der verfolgten Minderheit zum freien Volk im eigenen Land entfaltet sich noch immer. Die Freude über das Leben, das mir geschenkt wurde, kann nicht bestehen ohne die Trauer um den Tod meines Bruders. In wenigen Jahren wird meine Generation aus dieser Krise hervortreten und ein Land führen müssen – jüdisch und demokratisch, mit Respekt vor der Vergangenheit und Plänen für die Zukunft. Ich bereite mich darauf vor.
Israelis und Juden verbergen im Ausland täglich ihre Identität. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten oder Kritik an Israel: Kein einzelner Mensch kann einen ganzen Staat repräsentieren. So viele Anfeindungen und antisemitische Vorfälle könnten vermieden werden, wenn Menschen unterscheiden könnten zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. Am 7. Oktober werden wir aufgerufen, uns zu erinnern, nicht zu vergessen und erneut das grundlegende Bedürfnis des jüdischen Volkes nach einer Heimat einzufordern.
Ich war 21, als der Krieg ausbrach – als 3000 Terroristen mich und meine Freunde auf unserem Boden jagten. Während wir rannten, fiel mein Bruder im Gefecht für das Land. Mit 21 musste ich die veränderte Realität, das Trauma und den Verlust ertragen – zusammen mit der täglichen existenziellen Angst um mein Leben. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich dankbar, sagen zu können, dass ich einen Weg gefunden habe, mein Leben schöner und sinnvoller zu machen. Ich bin eine Geschichte einer ganzen Nation.
Doch leider ist der Krieg nicht vorbei. Solange die letzten 48 Geiseln nicht heimkehren, kann keiner von uns wirklich zur Normalität zurückkehren. Jede von ihnen ist Teil meiner Familie geworden. Solange der Letzte nicht zurück ist, bleibt ein Teil von mir zerrissen – von jemand anderem gehalten. Meine Geschichte ist ohne sie nicht vollständig.
Aus dem Englischen übersetzt und redaktionell bearbeitet von Franziska Zimmerer.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke