„Ich bin da an dieser Stelle auch sehr empfindlich“, wehrt sich Merz
Knapp ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt hatte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in der ARD-Sendung „Caren Miosga“ die Gelegenheit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Im Fokus standen dabei der nicht so recht anlaufen wollende „Herbst der Reformen“ und die nicht eingelösten Versprechen der Bundesregierung.
„Mit klaren Projekten, klaren Zielsetzungen und klaren Zeitplänen“ möchte Merz die Herausforderungen angehen, wie er sagte. Doch seine Zufriedenheitswerte sind in den vergangenen Monaten gesunken, während die AfD als größte Oppositionspartei im aktuellen „Deutschlandtrend“ ihr bislang bestes Ergebnis erzielt und erstmals gleichauf mit der Union liegt.
Die Ausmaße der Wirtschaftskrise werden immer offenkundiger, allein in der Automobilbranche sind seit Sommer 2024 mehr als 50.000 Stellen abgebaut worden. Doch in der Sendung war die schwierige Lage der deutschen Wirtschaft nur ein Randthema. Stattdessen auf dem Prüfstand: Wehrdienst, Bürgergeld und Rente – und die außenpolitischen Herausforderungen rund um den Krieg in Gaza und die Drohgebärden Russlands.
So ging es zu Beginn der Sendung um die Drohnensichtungen, die den Münchner Flughafen in dieser Woche mehrfach lahmgelegt hatten. „Unsere Vermutung ist, dass Russland hinter den meisten dieser Drohnenflüge steckt“, sagte Merz. Noch verfüge die Polizei nicht über die passenden „Instrumente“, um auf die Drohnen-Gefahr wirksam zu reagieren. „Es gibt Techniken auf der Welt, die das ermöglichen, abzuwehren. Die brauchen wir“, forderte der Kanzler.
In der Vergangenheit sei die Gefahr durch Russland unterschätzt worden, doch nun sei klar, „dass Putin uns testen will“. Ist Deutschland darauf nicht vorbereitet? Diese Unterstellung wies Merz von sich: „Wir werden nicht kalt erwischt. Es ist einfach in dieser Massivität erst in den letzten Wochen aufgetreten.“ Er wisse, dass dagegen etwas getan werden müsse. „Wir werden das besonnen und mit Augenmaß tun.“
Merz für verpflichtendes Gesellschaftsjahr
Damit gewinnt die Debatte über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands an Dringlichkeit – inklusive neuem Konfliktpotenzial mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner. Die bisherigen Initiativen aus dem von Boris Pistorius (SPD) geführten Verteidigungsministerium zu einem freiwilligen Wehrdienst hält der Bundeskanzler offenbar nicht für ausreichend: „Ich bin dafür, dass wir das machen, was wir im Koalitionsvertrag verabredet haben, nämlich vorläufig freiwillig. Aber ich vermute, es wird bei Freiwilligkeit allein nicht bleiben“, so Merz. Er zweifle daran, dass das Freiwilligenmodell der Bundeswehr genügend neues Personal bringe. „Meine Meinung ist schon, dass wir den Wehrdienst wieder brauchen.“
Der Kanzler bemühte sich zwar, grundsätzlich Unterstützung für das Modell von Pistorius zu signalisieren. „Wir wollen das jetzt mit der SPD zunächst freiwillig versuchen hinzubekommen“, sagte Merz. Und fügte zugleich hinzu: „Ich bin skeptisch. Wenn es uns gelingt – umso besser.“
Die Union kritisiert schon seit Längerem, dass in dem Gesetzentwurf nicht genau definiert wird, unter welchen Bedingungen die Freiwilligkeit in eine neue Pflicht umgewandelt werden könnte. Merz schlug erneut „ein allgemeines, gesellschaftliches Pflichtjahr“ vor. Dazu braucht es allerdings eine Grundgesetzänderung, für die wiederum eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag erforderlich ist. Ein Dilemma für die Union – schließt doch ein Unvereinbarkeitsbeschluss eine Kooperation mit der Linkspartei und AfD aus. Dazu äußerte sich Merz in der Sendung nicht.
Auf koalitionsinterne Unstimmigkeiten beim Thema Wehrdienst deutete auch eine Reaktion des Kanzlers auf die jüngste Kritik von Pistorius an der Unionsfraktion hin. Pistorius hatte dieser am Samstag eine Blockade seines Wehrdienstgesetzes vorgeworfen. „Das Verhalten der Unionsfraktion ist fahrlässig, weil es möglicherweise die Einführung des neuen Wehrdienstes und damit auch die Wiedereinführung der Wehrerfassung verzögert“, sagte der SPD-Politiker dem „Handelsblatt“. Die erste Lesung im Bundestag über den Gesetzentwurf war ursprünglich am 9. Oktober angesetzt, wurde aber nun um eine Woche verschoben.
Merz bewertet die Lage anders: Die Verschiebung der Bundestagsdebatte über den Gesetzentwurf zum neuen Wehrdienst sei „schon vor einigen Tagen“ gemeinsam von den Fraktionen von Union und SPD vereinbart worden – dafür sei nicht wie von Pistorius behauptet allein die CDU/CSU verantwortlich, so Merz. Um dann hinzuzufügen: „Es kann sein, dass er die internen Vorgänge im Parlament nicht so mitbekommen hat.“
„Grundsicherungsgesetz“ ersetzt „Bürgergeld“
Beim Bürgergeld stehe dagegen eine Einigung zwischen Union und SPD kurz bevor. Künftig soll das Wort „Bürgergeld“ der Vergangenheit angehören – stattdessen werde es „Grundsicherungsgesetz“ heißen. Davon erhofft sich der Kanzler eine Signalwirkung: Bei diesem handle es sich nicht um eine „Lohnersatzleistung auf Dauer“, stattdessen brauche es strengere Regeln gegen Missbrauch und stärkere Anreize für die Rückkehr in den Arbeitsmarkt.
Beides soll im neuen Gesetz verankert werden. Merz rechnet vor: „Wenn wir 100.000 Menschen aus dem Bürgergeld zurück in den Arbeitsmarkt holen“, ermögliche dies bis zu 1,5 Milliarden Euro an Einsparungen. Als Einsparpotenzial hatte der Kanzler zuvor fünf Milliarden Euro in Aussicht gestellt – dazu müssten mehr als 300.000 Bürgergeldempfänger zurück in den Arbeitsmarkt finden.
Von Miosga darauf angesprochen, dass die Regierung viele ihrer Reformversprechen bisher nicht eingelöst habe, entgegnete Merz: „Wissen Sie, Frau Miosga, ich muss die Öffentlichkeit mitnehmen, aber ich muss auch die Regierung treiben. Ich muss Antreiber dieser Reformprozesse sein und das bleibe ich auch.“
Konfliktpotenzial bietet auch das Thema Rente. Bedeutende Fortschritte gibt es bisher nicht, Reformpläne sollen erst im Herbst 2026 verhandelt werden. Merz machte auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse aufmerksam: „Wir wollen, dass die Menschen länger arbeiten. Aber wir brauchen für solche Vorschläge auch Mehrheiten. (...) Wir müssen begründen, warum wir das machen. Wir wollen die Menschen doch nicht quälen.“ Zwar müsse die „Bevölkerung für Rente, für Altersversorgung, für die Gesundheit und für die Pflege“ zukünftig mehr aufwenden – doch wie diese Finanzierung konkret aussehen könnte, sagt der Kanzler nicht. Er selbst sei ein „Befürworter eines Pflichtbeitrages in eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge“.
„Ich möchte, dass unser Land ein Land ist, in dem Kinder ohne Gefahren leben können“
Neben den Streitthemen der schwarz-roten Koalition kamen in der Talkshow auch persönliche Momente der ersten Monate von Merz‘ Kanzlerschaft zur Sprache. Moderatorin Miosga thematisierte die emotionale Rede des Kanzlers im Rahmen einer Wiedereröffnung einer Synagoge in München im September, bei der Merz die Tränen gekommen waren. Auch am Sonntagabend nahm sich Merz einen Moment, um sich zu sammeln: „Das sind Augenblicke, die sind einfach da in so einer Rede“, erklärte er. „Ich bin da an dieser Stelle auch sehr empfindlich, gerade, wenn es um Kinder geht. Und ich möchte, dass unser Land ein Land ist und bleibt, in dem Kinder, auch jüdische Kinder ohne Gefahren leben und groß werden können.“
Merz verwies darauf, wie ihn seine eigene Familiengeschichte in diesem Zusammenhang prägt: „Wenn Sie so wollen, ist natürlich auch meine Familiengeschichte eine Geschichte von Verstrickung und gleichzeitig Wiedergutmachung und Aufarbeitung.“
Wie sich das in konkretes politisches Handeln überträgt, machte Merz ebenfalls deutlich: So erteilte er etwa Diskussionen um einen Ausschluss Israels vom kommenden Eurovision Song Contest (ESC) eine Absage: Ein solcher Schritt wäre aus Sicht des Bundeskanzlers ein „Skandal“. In einem solchen Fall sollte Deutschland Konsequenzen ziehen und freiwillig auf die Teilnahme verzichten: „Das würde ich befürworten. Ich halte es für einen Skandal, dass darüber überhaupt diskutiert wird. Israel gehört dazu.“
Den von US-Präsident Donald Trump vorgestellten Friedensplan für Gaza, der an diesem Montag in Ägypten Gegenstand von Gesprächen ist, unterstützt Merz: „Ich hoffe, dass es gelingt.“ Er habe mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Trump telefoniert. „Das sind jetzt sehr entscheidende Tage, möglicherweise nur bis zum Ende der nächsten Woche“.
Bei einem späteren Wiederaufbau des Gaza-Streifens traut Merz Deutschland eine Führungsrolle zu. Man werde so schnell wie möglich dafür sorgen müssen, dass der Hunger nicht weiter um sich greife und wieder aufgebaut werde. „Und Deutschland wird da sicherlich mit ganz vorn dabei sein, zu helfen, dass dieses Leid der dortigen Bevölkerung beendet wird.“
Dass das Thema für Merz aber weiterhin kein einfaches sein wird, war in den vergangenen Monaten mehrfach deutlich geworden. So stand der CDU-Chef auch innerhalb seiner eigenen Partei unter Druck, nicht zu hart gegenüber Israel aufzutreten. Dessen Existenzrecht fällt unter das einst von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausgerufene Gebot der Staatsräson.
Viele Parteikollegen, insbesondere aus der CSU, hatten Kritik an Merz‘ Ankündigung vom Sommer geübt, wonach die Bundesregierung vorerst keine Ausfuhren von Rüstungsgütern mehr genehmigen werde, die im Gaza-Krieg verwendet werden könnten. Einige deuteten dies als inoffizielles Ende der Staatsräson. Auf einen Hinweis der Moderatorin Miosga, wonach er mit dem Begriff „Staatsräson“ nicht viel anfangen könne, sagte Merz: „Staatsräson hat man in der Regel für das eigene Land und nicht für andere.“ Noch im Juni hatte Merz gesagt: „Unsere Staatsräson ist die Verteidigung des Staates Israel in seiner Existenz.“
Zugleich stellte Merz klar: „Unsere uneingeschränkte Solidarität mit Israel, die hat für mich nie auf dem Prüfstand gestanden. Mein persönliches Verhältnis zu Israel ist uneingeschränkt gut. Das ist ein tolles Land. Das, was aber die israelische Armee dort gemacht hat, ging nach meiner Auffassung zu weit.“
Zur Haltung der israelischen Regierung zur Zwei-Staaten-Lösung gefragt, sagte Merz: „Diese israelische Regierung will es offensichtlich nicht.“ Das heiße aber nicht, dass die Bundesregierung, die für eine Zwei-Staaten-Lösung eintritt, ihre Meinung ändern werde. „Wir sagen es bei jeder Gelegenheit.“
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