In Tschechien könnte am Wochenende der Milliardär Andrej Babis seine Rückkehr an die Macht feiern. Dessen populistische Partei ANO liegt mit um die 30 Prozent in Umfragen deutlich vor den anderen Parteien. Der Prager Politologe Vit Dostal erklärt, wovon es abhängt, ob Babis sich dem Westen oder Moskau zuwendet.

WELT: Herr Dostal, viele Beobachter sprechen davon, dass die bevorstehende Parlamentswahl in Tschechien besonders bedeutend sei. Stimmen Sie dem zu?

Vit Dostal: Die Menschen empfinden diese Wahl als bedeutend. Der Grund dafür ist, dass Veränderung absehbar ist. In Umfragen liegt Andrej Babis nicht erst seit Wochen oder Monaten, sondern seit Jahren vorn. Dazu werden mehrere Antisystemparteien ins Parlament kommen. Die rechtsextreme SPD wird voraussichtlich ungefähr zehn Prozent der Stimmen erhalten. Also, Veränderungen kommen auf uns zu, für viele Beobachter aber ist unklar, wie genau diese Veränderungen aussehen werden oder was das Wahlergebnis bedeuten wird.

Aber natürlich ist da das Verhältnis einzelner Parteien zur Ukraine, zu Russland und zur EU. Die Ausrichtungen sind unterschiedlich. Es kommt darauf an, was für eine Koalition geformt wird, ob die extreme Rechte oder die extreme Linke sich an einer Regierung beteiligen wird. Bei beiden Parteien handelt es sich um prorussische Kräfte. Denkbar ist auch, dass die Abgeordneten dieser Parteien eine Minderheitsregierung von Babis stützen würden. Wenn das geschieht, ist die Frage, was sie auf dem Feld der Sicherheitspolitik fordern werden. Dass jedoch die aktuell regierenden Parteien der Mitte nach der Wahl erneut zusammen eine Koalition bilden werden, halte ich für ausgeschlossen.

WELT: Babis war in seinen ersten Amtszeiten bis 2021 in Korruptionsskandale verwickelt, ihm wurde vorgeworfen, Interessen als Geschäftsmann und Regierungschef miteinander zu vermischen. Es kam zu Massenprotesten, Babis‘ Rücktritt wurde gefordert. Wie kann es sein, dass ein seinerzeit so unbeliebter Premierminister jetzt im Umfragen deutlich vorn liegt?

Dostal: Die Umfragen sind nicht in erster Linie ein Effekt guter Oppositionsarbeit von Babis. Wir sollten auch nicht davon ausgehen, dass Babis besonders beliebt ist. Wichtiger ist, dass die amtierende Regierung sehr unbeliebt ist. Es ist die unbeliebteste tschechische Regierung seit 1989. Wir haben in den vergangenen Jahren eine hohe Inflation erlebt, die Energiepreise sind hoch. Das Bild der Regierung hat sich nicht dadurch gebessert, dass Angehörige der Regierungsparteien den Wählern versucht haben zu erklären, dass es ihnen doch eigentlich ganz gut gehe. Vielen Menschen geht es nicht gut, das entgegnen sie der Politik. Dazu sollten wir auf die aktuelle Lage – und speziell auf Babis – nicht ausschließlich durch die Brille der Proteste schauen. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die zu einem Sieg der amtierenden Koalition 2021 geführt haben. Einer ist, dass Parteien, wie die Kommunisten oder auch die Sozialdemokraten, unter der Fünf-Prozent-Hürde geblieben waren und nicht ins Parlament gekommen sind. Andere Parteien konnten sich so mehr Sitze im Verhältnis zu ihren Stimmanteilen sichern. Jetzt wird es wahrscheinlich mehr Parteien im Parlament geben. Wähler der Mitte-Parteien drohen, am Wahlwochenende zu Hause zu bleiben, extreme Parteien dürften ihre Wähler besser mobilisieren.

WELT: Es gibt in der tschechischen Politik prorussische Kräfte und ein starkes Lager, das die Ukraine unterstützt. Auch wenn es mehrere Koalitionsoptionen gibt, kann man mit Blick auf Tschechiens künftige Außen- und Sicherheitspolitik von einer Zweiteilung sprechen?

Dostal: Es ist schwierig, solche Aussagen zu treffen. Eine Minderheitsregierung ist möglich, sogar eine Koalition von Babis und einer der Mainstream-Parteien, auch wenn das jetzt noch keiner der Beteiligten offen sagen möchte. Nach den Wahlen könnte es Gespräche geben. Ich sehe hier keine Zweiteilung, wir müssen wohl damit rechnen, dass es nach der Wahl lange dauern wird, bis es zu einer Regierungsbildung kommt.

WELT: Die zentrale Figur ist in jedem Fall Babis?

Dostal: Babis verspricht allen alles. Er ist ein richtiger populistischer Anführer, der eine Catch-All-Partei geformt hat. Er betont dabei Gegensätze zwischen sich selbst und Premierminister Petr Fiala und zeigt sich offen für eine Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten, mit Links- und Rechtsextremen. Das sind Leute, die aus der EU raus, die die Unterstützung für die Ukraine einstellen wollen. Dann gibt es noch eine anti-grüne Bewegung, die sich gegen Klimapolitik stellt. Es kommt also auf Babis’ potenziellen Partner an und den Deal, auf den er sich einlässt. Er selbst ist kein Ideologe, hat keine wirklich festen Prinzipien. Klar aber ist, dass er nicht der Typ ist, der aus der EU oder Nato raus will. Das unterscheidet ihn vom linken und rechten Rand.

WELT: Babis ist schwerlich durchschaubar. Was für eine Position vertritt er gegenüber der Ukraine oder Russland?

Dostal: Er möchte unter allen Umständen vermeiden, sich dazu zu äußern. Geht es nach ihm, dann sollen die großen internationalen Probleme von den großen Ländern gelöst werden. Tschechien soll sich heraushalten. Das wiederholt er ständig in seiner Kampagne. Ein Grund dafür ist natürlich, dass er die Links- und Rechtsextremen nicht abschrecken will, indem er sich zum Beispiel proukrainisch positioniert.

Schauen wir uns die tschechische Gesellschaft an, dann stellen wir fest, dass nur eine sehr kleine Gruppe Sympathien für Russland hegt und zum „Osten“ gehören möchte, es ist eine einstellige Nummer, vier, fünf Prozent. Ungefähr vierzig Prozent der Menschen sind entschieden hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum Westen, die größte Gruppe aber möchte, dass ihr Land irgendwie dazwischen ist, sich neutral verhält. Das heißt nicht, dass diese Leute raus aus der EU wollen. Es ist die Gruppe, auf die Babis mit seiner Kampagne zielt. Mit Unterstützungsbekundungen für die Ukraine hält er sich zurück, Gutes über Russland sagt er aber auch nicht. Er hält sich alles offen. Vergessen wir nicht, dass er damals als Premierminister zuerst nach Brüssel und Washington gereist ist, nicht nach Moskau. Das ist der Unterschied zwischen Babis einerseits und Robert Fico und Viktor Orbán andererseits.

WELT: Das klingt beinahe so, als könnte Babis „aus Versehen“ in eine Koalition geraten, die eine anti-ukrainische Politik betreibt.

Dostal: Die Frage ist, was anti-ukrainisch konkret bedeutet.

WELT: Eine neue tschechische Regierung könnte ihre Rhetorik gegenüber der Ukraine ändern, Waffenlieferungen zurückfahren, entsprechende EU-Entscheidungen hinauszögern – wie die ungarische Regierung es tut.

Dostal: Ich denke nicht, dass eine Regierung unter Babis so weit gehen würde wie Ungarn. Babis würde dadurch nämlich nichts gewinnen. Aber wie genau die Ukraine-Politik aussieht, kommt auf die Koalitionsparteien an. Es gibt gewisse Zeichen: Babis zum Beispiel sagt, dass die Nato sich um die Munitionsinitiative kümmern sollte, wobei meine Quellen mir sagen, dass diese Initiative ohne Tschechien aufgrund des Netzwerks, über das Prag weltweit verfügt, nicht weiter umsetzbar ist. Nun, das ist Stimmenfang. Was aber sollte Babis davon haben, etwa den EU-Beitritt der Ukraine zu blockieren? Er müsste sich von möglichen extremen Koalitionspartnern treiben lassen. Das Heft in der Außenpolitik aber wird er sich nicht aus der Hand nehmen lassen. Ich sehe eine andere Gefahr: Sollte Babis mit Extremisten in eine Regierung eintreten, könnte er in Europa isoliert werden, sich dann trotzig vom europäischen Ukraine- oder Russlandkonsens verabschieden und sich öfter an die Seite der Slowakei und Ungarns stellen.

Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke