Was die Behörden wirklich über IS-Rückkehrer wissen
IS-Rückkehrer aus dem Kriegsgebiet in Syrien und dem Irak versetzten die Sicherheitsbehörden lange Jahre in erhöhte Alarmbereitschaft. Auf dem Höhepunkt des sogenannten Islamischen Staats in den 2010er-Jahren schlossen sich Tausende Europäer der Islamistenmiliz an. Als das selbsterklärte Kalifat zusammenbrach, erlebte Deutschland eine Rückkehrwelle desillusionierter Kämpfer, oft samt ihrer Familien. Manche ließen sich widerstandslos in der Türkei oder häufig bei der Einreise am größten deutschen Flughafen Frankfurt/Main festnehmen. Andere kehrten auf dem Landweg zurück.
472 dieser Rückkehrerinnen und Rückkehrer leben aktuell wieder in Deutschland. Das ergab eine Antwort des Auswärtigen Amts (AA) auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Cansu Özdemir. Die Antwort liegt WELT vor. Die tatsächliche absolute Zahl dürfte geringer sein. Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass manche Rückkehrer wiederholt nach Syrien gereist sind und deshalb in der Auflistung mehrfach vorkommen.
Insgesamt hat die Bundesregierung Erkenntnisse zu rund 1150 deutschen Islamistinnen und Islamisten, die seit 2011 in Richtung Syrien oder Irak gereist sind und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aktuell dort aufhalten beziehungsweise aufgehalten haben. Das Schicksal eines großen Anteils deutscher IS-Anhänger, die ins Kriegsgebiet reisten, ist also angesichts der Rückkehrquote von rund 40 Prozent ungeklärt.
„Aufgrund der Niederlage des Islamischen Staats reisen kaum noch deutsche Islamisten zurück. Dennoch sind noch immer Hunderte Dschihadisten in Syrien und Irak, weshalb wir die Lage weiterhin genau beobachten müssen“, sagte die außenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Cansu Özdemir, WELT. Die Normalisierung im Umgang mit islamistischen Regierungen durch die deutsche Bundesregierung, etwa in Syrien, bleibe „besorgniserregend“.
Bei rund 65 Prozent der etwa 1150 ausgereisten deutschen Islamisten berichten die Sicherheitsbehörden, dass diese aufseiten islamistischer Gruppen wie des sogenannten Islamischen Staats, der al-Qaida oder denen nahestehenden Gruppierungen an Kampfhandlungen teilgenommen haben. Während die „Internationale Allianz zur Bekämpfung des Islamischen Staats“, bestehend aus westlichen Ländern wie den USA und lokalen Kräften vor Ort wie den Syrian Democratic Forces (SDF), den IS bekämpfte und 2019 endgültig besiegte, gerieten auch viele deutsche Kämpfer und deren Angehörige in kurdische Gefangenschaft. Lange herrschte Streit darüber, ob ihre Herkunftsstaaten diese Menschen aus Lagern wie Al-Hol im Nordosten Syriens wieder aufnehmen würden.
Das Auswärtige Amt erklärt in seiner Antwort: „Die Bundesregierung hat seit 2019 28 deutsche Frauen sowie deren Kinder aus Nordostsyrien konsularisch repatriiert.“ Darunter sind demnach 74 minderjährige Kinder und ein Heranwachsender, die zuvor mit ihren Eltern nach Syrien oder Irak ausgereist waren oder dort geboren wurden. Dazu nahm die Bundesregierung elf unbegleitete Minderjährige auf. Dabei handelt es sich um Halb- beziehungsweise Vollwaisen ums Leben gekommener deutscher mutmaßlicher IS-Anhängerinnen und IS-Anhänger.
Abseits der IS-Anhänger aus den kurdischen Lagern koordinierte das BKA die Rückkehr von zwölf Frauen und 25 Kindern. „Hierzu zählen sowohl Personen, die aus der Türkei oder Irak abgeschoben wurden, als auch Personen, die freiwillig und aus eigener Veranlassung zurückreisten“, so die Bundesregierung.
Alle Rückkehrer aus dem Kriegsgebiet habe man besonders im Blick, hieß es stets aus den Sicherheitsbehörden der Länder. Der kampferprobte, fanatische Rückkehrer, der einen großen Anschlag in Deutschland plant – dieses Szenario galt als nicht unplausibel. In den zurückliegenden Jahren kam es zwar zu diversen islamistischen Anschlägen in Deutschland, die der Islamische Staat für sich reklamierte. Die meisten dieser Attentäter hatten sich im Inland radikalisiert, keiner der Täter war ein IS-Rückkehrer aus dem Kriegsgebiet.
Polizeibehörden und Verfassungsschutzämter der Länder kümmern sich mit großem personellem Aufwand um die Überwachung der zurückgekehrten Islamisten. Viele werden zunächst wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung angeklagt. Zumeist reichen die Beweise den Gerichten für eine Verurteilung zu eher kurzen Haftstrafen. Deutschen Staatsanwaltschaften fällt es dagegen oft schwer, den zurückgekehrten IS-Anhängern konkrete Taten wie Morde, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzuordnen und diese gerichtsfest zu belegen.
Für jeden Rückkehrer erstellen die Behörden üblicherweise eine individuelle Gefährdungseinschätzung. „Dazu gehört stets auch ein Gesprächsangebot im Rahmen eines Deradikalisierungsprogramms“, antwortet das Auswärtige Amt auf die Linken-Anfrage. Wie erfolgreich diese Deradikalisierung deutscher Islamisten verläuft, ist schwer einzuschätzen.
Der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes Torsten Voß sagte auf dem Höhepunkt der Rückkehrerwelle 2020 in einem Interview mit WELT, die Mehrheit lande wieder in der Szene. „Man muss sie aus ihrem sozialen Umfeld, ihrer Szene lösen, sonst ist die Gefahr eines Rückfalls groß.“
Seitdem haben sich unterschiedliche deutsche und internationale Studien mit Rückkehren beschäftigt. Eine qualitative Studie einer deutschen Forschergruppe zu zwölf weiblichen Rückkehrerinnen aus dem Jahr 2024 etwa konstatierte: „Nach ihrer Rückkehr zeigten sowohl die Frauen als auch ihre Kinder Anzeichen von Traumatisierung. Während einige Frauen therapeutische Unterstützung ablehnten, konnte in anderen Fällen keine geeignete Unterstützung gefunden werden.“
Die in der „Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik“ veröffentlichte Studie heißt es, diese unzureichende Aufarbeitung oftmals traumatischer Erfahrungen stellte eine zusätzliche Herausforderung in der „Reintegrationsarbeit“ mit den Frauen dar. „Das beobachtete Vermeidungsverhalten erschwerte die Distanzierung, Deradikalisierung und Reintegration der Frauen und führte teilweise zu sozialer Isolation“, so die Forscher.
Die gemeinnützige Organisation zur Extremismusprävention „Violence Prevention Network“ analysierte in ihrem im Winter 2024 veröffentlichten Jahresbericht, die Arbeit mit Rückkehren im Strafvollzug bleibe eine „Herausforderung“. Man erlebe allerdings auch Erfolge: Bisher konnte erreicht werden, dass „keiner der zu betreuenden Rückkehrerinnen und Rückkehrer rückfällig geworden sei“.
Die Erzählung vom kampferprobten Rückkehrer als Hauptgefahr hält der Empirie bislang also nicht stand. Gefährlich bleibt das Rückkehrer-Milieu allerdings trotzdem.
Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik. Im September ist im Verlag C.H. Beck sein Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ erschienen, das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat.
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