Abschuss russischer Kampfflugzeuge – „Na, Entschuldigung, aber was denn sonst?“
Gefühlt rückt der Krieg dieser Tage näher. Seit dem Eindringen russischer Drohnen in den polnischen Luftraum vor zwei Wochen häufen sich beinahe täglich ähnliche Vorfälle in Norwegen, Dänemark, Litauen oder Rumänien. Estland sah sich gezwungen, Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags zu beantragen, nachdem sich vergangene Woche drei russische Kampfjets vom Typ MiG-31 für zwölf Minuten im estnischen Luftraum aufgehalten hatten, bis sie von Nato-Jets aus dem Gebiet eskortiert wurden.
Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg sollen europäische Diplomaten der russischen Regierung in dieser Woche verdeutlicht haben, dass die Nato bereit sei, unbefugt eingedrungene Flugzeuge abzuschießen. „Wir werden attackiert, hybrid, mit Desinformationskampagnen und eben durch Drohneneindringen“, erklärte Verteidigungsminister Boris Pistorius am Rand der gestrigen Beratungen mit ostdeutschen Regierungschefs auf Schloss Ettersburg. „Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im kompletten Frieden.“
Welche Konsequenzen resultieren aus den Luftraumverletzungen? Und was geschähe im Ernstfall? Ein Überblick.
„Der Tag“: „Ist es noch ein Abschreckungsbündnis oder nicht?“
Mit Bedacht näherte sich Sicherheitsexperte Christian Mölling dem Thema im Podcast „Der Tag“ vom Deutschlandfunk. „Die Situation selber ist wahrscheinlich nicht so gefährlich“, erklärte er umsichtig, „denn wir dürfen bislang davon ausgehen, dass Russland – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – keine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato haben will.“ Die russische Regierung verfolge eine Art „Salamitaktik“, im Zuge derer sie schrittweise überprüfe, wie weit sie gehen könne. In den Nato-Staaten erzeuge sie damit ein „Gefühl der Ohnmacht“.
Eben damit greife Russland die „Identität“ der Nato an. „Ist es noch ein Abschreckungsbündnis oder nicht? Das ist eine große strategische Entscheidung, und Moskau forciert, dass die Nato sich über diese Fragen Gedanken macht“, erklärte Mölling gegenüber der Moderatorin Sandra Schulz.
Er griff die Idee auf, den Einflug von Flugkörpern fortan als kriegerischen Akt zu werten und diesen mit dem Abschuss zu beantworten. Abwägend gab er im Falle von Kampfjets jedoch zu Bedenken: „Wenn sie darauf schießen, töten sie auch Menschen. Dann sind sie viel näher an einer eindeutigen Kriegshandlung dran.“
„F.A.Z. Podcast“: „Probier’s doch mal mit uns. Wir machen nichts“
Deutlich handfester trat der Sicherheitsexperte und Politikberater Nico Lange im „F.A.Z. Podcast für Deutschland“ auf. Was er von der Idee halte, russische Kampfflugzeuge im Nato-Luftraum abzuschießen, fragte Moderator Andreas Krobok. „Na, Entschuldigung, aber was denn sonst?“, erwiderte der Berater perplex. „Dafür haben wir doch die Luftverteidigung.“ Vonseiten der Spitzenpolitik erlebe er seit Tagen „Verrenkungen“, um einen Weg zu finden, nicht reagieren zu müssen. „Wenn wir als Nato ausstrahlen wollen, leg dich nicht mit uns an, sonst wird‘s dir schlecht ergehen – das ist ja die Kommunikation der Abschreckung – dann können wir doch nicht sagen, wir begleiten die Flugzeuge freundlich.“
Doch welche Konsequenzen hätte es, wenn etwa Polen, Estland oder Rumänien einen russischen Jet abschießen würden? „Dann passiert nichts“, erklärte Lange selbstsicher. „Das ist die Erfahrung der Türkei.“ 2015 hatte eine russische Suchoi Su-24 im türkisch-syrischen Grenzgebiet mehrfach die Grenze zum türkischen Luftraum überschritten und war nach mehreren Warnungen Ankaras von der türkischen Luftwaffe abgeschossen worden. Danach habe es ein „großes Aufplustern“ von Putin und Erdogan gegeben, russische Touristen hätten einen Sommer lang die Türkei gemieden – und kein russisches Flugzeug hätte seitdem den türkischen Luftraum verletzt.
Für den Experten von der Münchner Sicherheitskonferenz stellt der Vorgang offensichtlich ein Vorbild für die aktuelle Lage dar. Er würde „dazu raten, sehr angestrengt darüber nachzudenken, wie man eine Abschreckungsbotschaft an Wladimir Putin“ sende. Es passe nicht zusammen, auf der einen Seite darüber zu diskutieren, dass Moskau weitgehende Pläne verfolge, um Europa zu bedrohen und möglicherweise 2029 anzugreifen, und gleichzeitig Einladungen dazu aussprechen. „Nach dem Motto: Probier’s doch mal mit uns. Wir machen nichts.“
„Ronzheimer“: „Könnte dramatische Folgen für unseren Alltag haben“
„Wenn irgendwo in Polen eine Drohne abstürzt, dann tut sich bei uns erstmal relativ wenig“, relativierte Ferdinand Gehringer die jüngsten Ereignisse. Doch welche Konsequenzen hätte es, wenn in Deutschland der Ernstfall einträte? Zu dieser Frage trat der sicherheitspolitische Berater der Konrad-Adenauer-Stiftung im Podcast von Paul Ronzheimer vom Axel Springer Global Reporters Network auf.
Deutschland wäre mit seiner Brigade in Rukla etwa „unmittelbar involviert“, wenn es zu einem konventionellen Angriff auf Litauen käme. Unklar wäre allerdings die Reaktion des Nato-Bündnisses, selbst wenn die „rote Linie des Artikel 5“ überschritten wäre. „Wer wäre denn tatsächlich innerhalb der Nato bereit, Truppen oder andere Unterstützungsleistungen an die Ostflanke zu schicken?“, fragte er zweifelnd.
Hierzulande bestünde die Möglichkeit, den Bündnisfall auszurufen, demzufolge sich Deutschland der kollektiven Verteidigung innerhalb des Nato-Bündnisses verpflichte, oder den Verteidigungsfall, der die unmittelbare Landesverteidigung betreffe. Das Initiativrecht obliege Bundesregierung und Bundestag, wobei sich Letzterer mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Fall aussprechen müsste. „Das wäre kein einfacher Schritt, politisch entweder die Linkspartei oder die AfD zu solchen Entscheidungen mitzubewegen“, äußerte Gehringer zweifelnd im Hinblick auf die deutsche Handlungsfähigkeit in diesem Szenario.
Wenn der Bundestag den Bündnis- oder Verteidigungsfall ausriefe, griffen die Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze. „Die könnten dann dramatische Folgen auch für unseren Alltag haben“, betonte der Autor von „Deutschland im Ernstfall: Was passiert, wenn wir angegriffen werden“. „Ganz viel Macht“ wandere in diesem Fall in die Bundesregierung.
„Ronzheimer“ gibt es hier zu hören: „Was passiert, wenn wir angegriffen werden? Mit Ferdinand Gehringer“
Sie könnte auf Logistikunternehmen zugreifen, Ärzte anfordern, den Flugverkehr umlenken, Straßen und Schienen für militärisches Gerät priorisieren, das Reise- und Bewegungsverhalten einschränken oder Textilunternehmen anweisen, Schusswesten statt T-Shirts zu produzieren. „Das allergrößte Ziel der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung ist, dass man die Funktionsfähigkeit des Staates aufrechterhält.“
„Sehr, sehr engagiert“ gehe das Verteidigungsministerium beim Operationsplan Deutschland vor, der Vorkehrungen für die militärische Seite im Spannungs- und Verteidigungsfall trifft. Ein „Riesenbedarf“ bestehe aus Sicht des Sicherheitsexperten bei zivilen Aspekten wie Bildung und Ernährung, die „deutlich komplexer“ seien. Entscheidend sei aber vor allem die Eigenverantwortung. Jeder müsse für sich Vorsorge betreiben, um in den ersten Stunden den Zivilschutzeinrichtungen und der Katastrophenschutzbehörde nicht mit „Lappalien“ zur Last zu fallen. „Wenn du weißt, was passieren kann, hast du weniger Angst, als wenn du das Ganze wegdrückst und versuchst, zu ignorieren.“
‚Podcast-Radar‘ von vergangener Woche: „Wir können uns gar nicht vorstellen, wie groß der Schock in den USA ist“
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