„Notfalls schießen wir Taurus von unseren Balkonen ab“ – Die vergessene Südfront der Ukraine
Meist im Schutz der Dunkelheit bringen russische Soldaten einen Lastwagen in Stellung. Keinen normalen Lkw, sondern eine moderne Version der „Stalin-Orgel“ – jenes Monstrums, das bereits im Zweiten Weltkrieg gefürchtet war wegen seiner auf die Ladefläche montierten Abschussrampen. Von dort flogen Raketensalven los, die kurz darauf in wüster Zufälligkeit auf den Feind niedergingen.
Früher nannte sich das Waffensystem Katjuscha, heute heißt es Tornado. Am Grundprinzip aber hat sich auch 80 Jahre später nichts geändert. Soldaten drücken auf einen Kopf, dutzende Raketen steigen in den Himmel auf.
In dieser Nacht trifft es ein Wohngebiet am südlichen Stadtrand von Saporischschja. Es ist der Teil der ukrainischen Regionalhauptstadt, der der Front am nächsten ist. Mehrere Gebäude werden beschädigt, ein Feuer bricht aus. Die dumpfen Detonationen sind noch kilometerweit entfernt zu spüren.
Ein Geschoss schlägt auf einem Spielplatz zwischen hohen Plattenbauten ein und reißt einen Krater in die Erde. Splitter schießen in alle Richtungen davon. Die Detonation tötet einen 41-jährigen Familienvater. Seine beiden Töchter, 17 und vier Jahre alt, werden so schwer verletzt, dass sie auf der Intensivstation behandelt werden müssen.
Tags darauf am Einschlagort. Oleg, ein bulliger, kahlköpfiger Mann von 62 Jahren, zeigt erst auf den Krater, dann auf die Wohnung des Toten. Die Fassade des Hauses ist mit Löchern übersät. Er sei ein Nachbar des Getöteten, erzählt er. Dieser habe Dmitri geheißen, zusammen mit ihm habe er immer die Bäume auf der Freifläche zwischen den Blocks gepflegt. Jetzt sind davon noch verkohlte Äste übrig. Daneben knarzen verbogene Metallstreben, die vermutlich einmal ein Klettergerüst waren.
Ihm fehle die Kraft, das wieder aufzubauen, sagt Oleg, und bezeichnet die Russen mit Worten, die die Dolmetscherin lieber nicht übersetzen will. Hinter dem Krater spielen Jugendliche Fußball, ein paar Stockwerke weiter oben hämmert ein alter Mann stoisch Holzplatten an die Stelle, an der bis vor ein paar Stunden noch ein Fenster war.
Ein Leben ausgelöscht, von einer Sekunde auf die andere. Zwei Kinder, die ohne Vater aufwachsen werden. Ein weiteres Kriegsverbrechen. Und nach dreieinhalb Jahren Blutvergießen eine Randnotiz im größten europäischen Landkrieg seit 1945. Die deutschen Nachrichtenagenturen verschicken pflichtschuldig kurze Meldungen; kaum ein Medium greift sie auf.
Saporischschja war einst im Ausland weitgehend unbekannt. Heute steht die sechstgrößte Stadt der Ukraine im Zentrum der Weltöffentlichkeit. Allerdings vor allem als eine Art anonyme Verhandlungsmasse. Wenn in Washington, Brüssel oder Berlin, in Talkshows, Kneipen und Kommentarspalten über den Tausch ‚Gebiete gegen Frieden‘ diskutiert wird, dann geht es um Territorien wie dieses. Um sowjetisch grau anmutende Industriehotspots, die aus dem Ausland womöglich einen austauschbaren Eindruck machen – als zu hoher Preis für ein Fortsetzen des täglichen Blutvergießens.
Drei Viertel der Oblast Saporischschja sind russisch besetzt. Putin erhebt auch Anspruch auf das letzte ukrainisch kontrollierte Viertel, in dem sich die Regionalhauptstadt befindet. Er hat Saporischschja zusammen mit den Oblasten Cherson, Donezk und Luhansk im September 2022 annektieren lassen. Fast vollständig besetzt ist nur Luhansk. Die ukrainische Regierung lehnt Gebietsabtretungen kategorisch ab.
„Wettrennen“ ums Töten
Am Mittag nach dem tödlichen Luftangriff: Regionalverwaltung Saporischschja, ein brutalistischer Klotzbau aus der Sowjetzeit im Stadtzentrum. Manche Fenster sind von der Druckwelle einer Explosion zerborsten, die Rahmen mit Sperrholz zugenagelt. Andere werden mit Sandsäcken geschützt. Drinnen betritt Iwan Fedorow, Gouverneur der Oblast Saporischschja, einen Konferenzsaal und stellt sich ohne eine Miene zu verziehen per Handschlag vor. Er ist leicht verspätet, nach Angriffen hat er noch mehr zu tun als ohnehin schon.
Fedorow spricht mit sanfter Stimme, unterbricht dabei aber fast nie einen stechenden Blickkontakt. „Das ist natürlich eine schwierige Situation“, sagt er über die permanenten Luftangriffe.
Raketen, Marschflugkörper und Langstreckendrohnen können jeden Ort in der Ukraine erreichen. Hier in Frontnähe droht anders als in Kiew oder Lwiw jedoch zusätzliche Gefahr von Waffen mit geringerer Reichweite. Etwa durch 500 Kilogramm schwere Gleitbomben, die von Flugzeugen abgeworfen werden, oder bestimmte Artilleriesysteme wie den Mehrfachraketenwerfer, der das Wohngebiet unter Feuer genommen hat.
Und auch kameragesteuerte First-Person-View-Drohnen (FPV), die auf beiden Seiten des Schlachtfelds für immense Verluste an Mann und Material sorgen, können inzwischen die südlichen Stadtteile erreichen. Für sich genommen ist die Reichweite der kleinen Kamikaze-Flieger in der Regel zwar nicht hoch genug. Sie würden aber inzwischen von größeren Trägersystemen näher an die Stadt transportiert und dort aus der Luft gestartet, erklärt Fedorow: „Als würde eine große Drohne im Flug eine tödliche ‚Baby-Drohne‘ gebären.“
Er berate mit dem Militär, wie man den Himmel über Saporischschja für diese Art von Drohnen schließen könne, sagt Fedorow. „Und ich bin zuversichtlich, dass uns das binnen weniger Wochen gelingen wird.“ Zumindest für eine Weile. Bis die Russen sich etwas Neues ausdächten. Es sei eben ein „Wettrennen“.
Im laufenden Jahr haben die Russen Saporischschja bereits mehr als hundertmal aus der Luft attackiert. Schulunterricht findet teils unter der Erde statt. Forderungen, zu einer Verhandlungslösung zu finden, wie sie etwa aus Teilen der deutschen Politik kommen, kann Fedorow angesichts dieses Feindes nicht nachvollziehen. „Das ist unglaublich“, sagt er. „Wir kämpfen, und jemand sagt: Hört auf damit. Wie kann das sein?“
Abkommen mit Russland hätten nie Bestand gehabt. „Wenn wir jetzt die Front einfrieren, können wir die Tage zählen, bis die Russen eine neue Invasion starten.“ Der beste Weg, sich gegen den Terror aus der Luft zu verteidigen, sei es, die Russen möglichst weit wegzutreiben, sagt Fedorow. Er spricht stets nur von „temporär besetzten“ Gebieten.
Fedorow weiß, was Besatzung bedeutet. Im März 2022, damals noch als Bürgermeister im eroberten Melitopol, stülpten ihm russische Soldaten einen Sack über den Kopf und entführten ihn. Nach einigen Tagen kam er bei einem Gefangenenaustausch frei. Durch seine Weigerung, mit den Besatzern zu kollaborieren, hat Fedorow moralisches Kapital angehäuft.
Heute traut dem 37-Jährigen mancher eine große Karriere in der ukrainischen Politik zu. Zunächst aber muss er die Menschen in seiner Oblast schützen – allein 700.000 in Saporischschja-Stadt, von denen 200.000 als Binnenvertriebene aus den besetzten Gebieten kamen. Von dort dringen üble Geschichten nach draußen. Sie sind ein weiterer Grund, warum Fedorow ukrainisches Territorium nicht einfach gegen eine Feuerpause eintauschen will.
Sein Problem: Die von ihm präferierte militärische Lösung scheint nach heutigem Stand unrealistisch. Die Front bewegt sich, aber in die falsche Richtung.
Die Kontaktlinie verläuft nur rund 25 Kilometer südlich der Vororte. In dieser Region hatte die ukrainische Armee 2023 mit ihrer Sommeroffensive versucht, das zu tun, was Fedorow fordert: Die Russen aus den besetzten Gebieten vertreiben. In riesigen Minenfeldern jedoch kamen die ukrainischen Vorstöße bereits nach wenigen Kilometern unter hohen Verlusten zum Erliegen.
Seit einigen Wochen rücken die Russen bei Saporischschja vor
Anschließend bewegte sich die Front hier fast zwei Jahre lang weder vor noch zurück – und geriet angesichts der großen Schlachten vor allem in der Region Donezk aus dem Fokus. Seit Frühsommer jedoch ziehen die russischen Streitkräfte nahe der Stadt wieder verstärkt Truppen zusammen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte kürzlich vor einer Offensive auf Saporischschja. Auch Fedorow spricht von „mehr und mehr Truppen“, die die Russen in die Schlacht schickten. Sie seien bislang aber nicht so weit gekommen, wie sie geplant hätten.
Tatsächlich dürfte den Russen die Kraft fehlen, eine Stadt dieser Größe einzunehmen. Aber sie rücken vor: ein paar hundert Meter hier, einen Kilometer dort.
Was der verstärkte Druck vor Ort bedeutet, lässt sich mitten im Stadtzentrum beobachten. Ein öffentliches Krankenhaus, ein rustikal anmutender Bau aus den 30er-Jahren: Vor der Tür steht ein offenbar aus Deutschland gespendeter Krankenwagen. Dass verwundete Soldaten schnell von der Front in das leistungsstarke medizinische Versorgungssystem einer Großstadt überführt werden können, ist vielleicht der einzige Vorteil, so nah an den Kämpfen zu sein.
Einer dieser Soldaten ist Wolodymyr, 49 Jahre alt: ein großer, hagerer Mann aus Kiew, der Ruhe ausstrahlt. Vor rund einer Woche sei er bei Saporischschja verwundet worden, erzählt er. Zum zweiten Mal, seit er 2022 als Reservist eingezogen worden sei. Als eine FPV-Drohne nahe seiner Position einschlug, rund 500 Meter von den Russen entfernt, habe er unter anderem Verbrennungen erlitten.
Nichts Schlimmes, sagt Wolodymyr nüchtern. „Das ist normal. Eine Verletzung, dann die nächste – das ist Krieg.“ In ein paar Tagen will er zurück an die Front. Auch er spürt den Druck der Russen. Bislang habe man sie aber gut zurückhalten können.
Die Russen wollten die Ukrainer zermürben, ihre Städte zerstören, um sie leichter unterwerfen zu können, glaubt der Infanterist. Man sehe es an Angriffen wie dem Raketeneinschlag auf einem Spielplatz: „Dann kann man sich nirgends mehr Verstecken. Dann ist es einfacher, eine Stadt zu besetzen.“
Auch er glaubt nicht an einen schnellen Frieden. Er schiebt nach: „Wer als Ukrainer aus dem Ausland zurückkommen will, sollte das jetzt tun. Und beim Aufbau der Wirtschaft und der Verteidigung helfen.“ Der Subtext offenbar: Sonst gibt es vielleicht irgendwann keine Ukraine mehr, in die man zurückkehren könnte.
Dabei geht, wenn man beschädigte Gebäude ausblendet, selbst in Saporischschja auf den ersten Blick ein völlig normales Großstadtleben seinen Gang: Bei gutem Wetter sitzen Pärchen draußen in der Pizzeria, kichern und trinken Aperol. Am Strandufer des Dnipro genießen Jugendliche den Sonnenuntergang, ein Mann rudert durch den Fluss. Die Verwaltung funktioniert, der öffentliche Nahverkehr ebenso.
Es ist eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Normalität und Terror. Als hinge ein unsichtbares Damoklesschwert über der Stadt, das jederzeit herunterfallen kann. Je nach eingesetztem Waffensystem vergehen zwischen Luftalarm und Einschlag nur rund vierzig Sekunden. Viele Menschen ignorieren die Sirenen trotzdem – „weil man sonst verrückt wird“, erzählt eine Einwohnerin. Die psychologischen Folgen permanenten Stresses sind gut erforscht, in Saporischschja aber hat man keine Kapazitäten, sich um die Zukunft zu sorgen.
Dafür spielt die Vergangenheit eine Rolle: Die Stadt gilt als eine Wiege der Kosaken, jener halbnomadischen Reitervölker, die die Ukraine spätestens im 17. Jahrhundert auf die mentalen Landkarten der Europäer setzten. Viel später, als der Kreml Mitte der 2010er-Jahre innerukrainische Spannungen anheizte und ausnutzte, haben sich die Menschen in Saporischschja russischen Einflussnahmeversuchen widersetzt. Hier die Kontrolle zu übernehmen, wäre für Putin aus diesen Gründen auch propagandistisch bedeutend.
Wie geht es also weiter? Saporischschja versucht, sich im Ausnahmezustand einzurichten. Nicht nur steht die russische Armee vor der Tür und fliegt permanent Luftangriffe. Der Dnipro führt bei Saporischschja kaum Wasser, seit Russland im Sommer 2023 den Kachowka-Staudamm weiter südlich gesprengt hat, mit desaströsen Folgen für die Umwelt. In der gleichen Richtung steht bei Enerhodar Europas größtes Atomkraftwerk. Es ist russisch besetzt, mehrfach brachen Brände unklarer Ursache aus – die Konstellation hat das Potenzial für eine Katastrophe, die schlimme Folgen nicht nur hier, sondern in ganz Europa haben würde. Die Gegend ist ein Pulverfass.
Und die Menschen? Für Wolodymyr ist sein Krankenhausaufenthalt eine „kurze Atempause“, er sieht es als seine Pflicht an, so schnell wie möglich wieder an die Front zu gehen. Gouverneur Fedorow will mehr Material, um die Russen ins Meer zu treiben und seine Oblast vor Angriffen wie dem am Vortag zu schützen. Oleg, der Nachbar des getöteten Familienvaters, würde gern wegziehen, an einen sichereren Ort – „aber wo gibt es den?“ Selbst in Polen seien ja kürzlich russische Drohnen aufgetaucht.
„Gebt uns einfach Taurus“, sagt er noch und ergänzt einen bitteren Scherz: „Notfalls schießen wir das Ding von unseren Balkonen aus ab.“ Dem Anschein nach wird allerdings auch Kanzler Friedrich Merz den Marschflugkörper nicht an die Ukraine liefern. Der Kreml wiederum wird kaum von seinen Zielen ablassen, möglichst weite Teile der Ukraine zu erobern. Fürs Erste bleibt den Menschen in Saporischschja also nur das, was sie seit dreieinhalb Jahren tun: versuchen, den nächsten Tag zu überstehen.
Nachrichtenredakteur Florian Sädler berichtet derzeit aus der Ukraine über Russlands Krieg gegen das Land.
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