Wegen „alternder Elite“ und Social-Media-Verbot – Gen-Z-Revolution stürzt die Regierung
Tage wie diese hat Nepal noch nicht erlebt. Das Land im Himalaja hat die schlimmsten Unruhen seit dem Ende des zehnjährigen Bürgerkriegs 2006 hinter sich. Der Regierungssitz stand in Flammen, aus Gebäuden flogen Möbelstücke und die Polizei ging mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. 72 Menschen starben nach Angaben der Regierung. Das Hilton Hotel brannte nieder; das Auswärtige Amt sprach eine Reisewarnung für Nepal aus.
Tage später sind viele der Demonstranten erneut auf die Straßen Kathmandus – diesmal mit Besen und Müllsäcken statt mit Plakaten und Parolen. Fotos und Videos in sozialen Netzwerken zeigen Gruppen von Freiwilligen, die im Morgengrauen Straßen fegen und Abfall einsammeln.
Sie werden als Nepals „Gen-Z-Proteste“ bezeichnet. Von den knapp 30 Millionen Einwohnern Nepals gehört rund 40 Prozent der Bevölkerung zur Generation der 1997 bis 2012 Geborenen. Sie war es, die in Scharen, teils in Schuluniformen, auf die Straße ging, um gegen eine alternde, aus ihrer Sicht korrupte politische Elite zu demonstrieren. Zugleich distanzierten sich viele Teilnehmende ausdrücklich von Plünderungen und Gewalt; sie machen Mitläufer und eingeschleuste Provokateure für Eskalationen verantwortlich.
Aus einem Aufstand gegen Korruption, Vetternwirtschaft und ein Social-Media-Verbot wurde der Sturz des Premiers K.P. Sharma Oli stürzte. Erstmals wählten die Protestierenden ihre Übergangsregierung über ein digitales Forum – ein beachtetes Experiment, das Chancen und Risiken birgt.
Am 5. September blockierte die Regierung 26 soziale Plattformen – darunter Instagram, X (ehemals Twitter) und WhatsApp – offiziell zur Eindämmung von Fake News und weil sich Dienste nicht registriert hätten. Viele Jugendliche vermuteten allerdings einen Vorwand, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Deshalb nutzten sie VPNs oder wichen auf TikTok und Discord aus. Discord, eigentlich eine US-Plattform für Gamer, wurde zum politischen Werkzeug: leicht zugänglich, anonym und interaktiv. Die Sperre wurde inzwischen wieder aufgehoben.
Dass soziale Medien so beliebt sind, liegt auch daran, dass Nepal sehr jung ist; das Durchschnittsalter liegt bei 25 Jahren. Viele aber haben keine Arbeit oder Perspektiven. Sie sind unzufrieden, denn seit 2008, als eine neue Verfassung verabschiedet wurde, wechselten sich 14 Regierungen von drei Parteien ab, ohne die Versprechen von Demokratie und Entwicklung einzulösen.
Online entzündete sich der Zorn der Gen Z diesen Sommer an den „Nepo Kids“ – Kinder mächtiger Politiker, die beim Luxusshopping in Dubai oder im Sportwagen gezeigt werden. In einem Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 1400 Dollar wirkt das wie Hohn. „Ich sehe noch nicht, dass sich das wirklich in politische Macht übersetzt“, sagt Christian Wagner, Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Die drei etablierten Parteien haben 199 Sitze von 275.“
Politik im Chatroom
Nach dem Rücktritt von Oli am 9. September verlagerten die Protestierenden ihre Energie ins Netz. Sie wollten eine Konsensfigur, die das Land aus dem Chaos führt und Korruption eindämmt – nur nicht auf die übliche Weise. Also wählten sie Nepals nächste Führung in einer für jede Wahldemokratie beispiellosen Form: durch eine virtuelle Abstimmung auf Discord. Organisiert wurde das Online-Treffen von Hami Nepal, einer Gen-Z-Gruppe mit mehr als 160.000 Mitgliedern.
Auf dem Kanal „Youth Against Corruption“ debattierten über 10.000 Menschen – auch viele aus der Diaspora – über die Zukunft des Landes. Weil der Ansturm zu groß war, wurde parallel ein Livestream auf YouTube eingerichtet, über den weitere 6000 Zuschauer die Debatte verfolgen konnten. „Sie hat natürlich keine demokratische Legitimität … das war aus der Situation heraus geboren“, sagt Wagner über die Online-Abstimmung.
Nach stundenlangen Diskussionen, kritischen Fragen und Kontaktversuchen zu potenziellen Kandidaten fiel die Wahl auf die ehemalige Oberste Richterin Sushila Karki und am 12. September legte die 73-Jährige den Amtseid als Übergangspremierministerin ab. Zugleich wurde festgelegt, im März Neuwahlen abzuhalten. Doch die digitale Wahl ist anfällig: Jeder kann theoretisch Mehrfachkonten anlegen oder Diskussionen manipulieren. Um Gerüchte und Fake News zu begegnen, richtete Hami Nepal zusätzlich einen „Fact-Check“-Raum ein.
Nepal ist damit Teil einer Serie von Aufständen der Generation Z in Südasien. In Sri Lanka stürmten 2022 junge Demonstranten den Präsidentenpalast in Colombo und zwangen Gotabaya Rajapaksa ins Exil. In Bangladesch führte 2024 eine Studentenbewegung die „Monsun-Revolution“ an, die die autoritäre Premierministerin Sheikh Hasina zu Fall brachte. In Indonesien sorgten im Sommer Proteste gegen Privilegien im Parlament und ein tödlicher Polizeieinsatz für tagelange Unruhen.
Doch es gibt Unterschiede. „Sri Lanka hat eine vergleichsweise homogene Bevölkerung“, so Wagner, „denn im nepalesischen Zensus finden Sie 142 Kasten und ethnische Gruppen sowie 124 Sprachen“. Das erschwere breite Mehrheiten. Zum Vergleich mit Bangladesch ergänzt er: „In Bangladesch hat die Protestbewegung jetzt auch eine neue Partei gegründet. In Nepal richtet sich der Protest gegen alle drei großen Parteiblöcke.“
Erst jetzt beginnt die eigentliche Arbeit – aus der Energie von Protesten stabile Institutionen zu formen, ist eine Herausforderung. Die Jugendbewegung in Nepal ist breit, aber heterogen – von Reformern über Monarchie-Nostalgiker bis zu Netzaktivisten. Ihre Legitimität wird davon abhängen, ob sie mehr kann als protestieren. Trotzdem verändert schon die Idee, dass politische Entscheidungen in offenen Online-Foren diskutiert und dokumentiert werden, die politische Kultur. Selbst wenn Discord keine Wahlen ersetzt, setzt es einen Maßstab für Transparenz – und demonstriert, wie digitale Generationen Politik neu denken.
Christina zur Nedden berichtet im Auftrag von WELT seit 2022 aus Asien.
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