• Der demografische Wandel ist eine massive Belastung für die Sozialsysteme, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind wegen des hohen Durchschnittalters besonders betroffen.
  • Eine Steigerung der Erwerbstätigkeit könnte helfen, zum Beispiel, wenn mehr Frauen in Vollzeit arbeiten.
  • Auf dem Tisch liegen bereits viele Vorschläge für Reformen der Rente, des Pflegesystems oder der Krankenversicherung.
  • Fachleute fordern dringend zu Reformen auf und räumen ein, dass es dabei auch Verlierer geben wird.

Der "Herbst der Reformen" hat begonnen. Seit dem Sommer kündigt die CDU unter dieser Überschrift an, wichtige Sozialreformen in Angriff zu nehmen. Kanzler Friedrich Merz sagte Ende August: "Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten." Die Bundesregierung wolle Kranken-, Pflege und Rentenversicherung leistungsfähig erhalten. "Das wird schmerzhafte Entscheidungen bedeuten, das wird Einschnitte bedeuten", kündigte Merz an.

Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind Bundesländer, die von dem demografischen Wandel und der Alterung besonders stark betroffen sind, mit einem extrem hohen Anteil älterer Menschen.

Katharina SpießBundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Ein Hauptgrund, warum die Sozialsysteme zu kollabieren drohen, ist der demografische Wandel. Die Gesellschaft (über)altert. Dieser langfristige Prozess spitzt sich kurzfristig zu. Die Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) in Wiesbaden, Katharina Spieß, sagt im Gespräch mit MDR AKTUELL: "Durch den Übergang der Babyboomer in die Rente haben wir eine besondere Situation, weil mit einem Schlag mehr oder weniger sehr, sehr viele Personen zum einen dem Arbeitsmarkt fehlen und zum anderen in den Ruhestand gehen."

In Mitteldeutschland ist diese Entwicklung besonders deutlich. Spieß erklärt: "Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind Bundesländer, die von dem demografischen Wandel und der Alterung besonders stark betroffen sind, mit einem extrem hohen Anteil älterer Menschen." Zwar würden in Metropolregionen wie Erfurt, Magdeburg oder Leipzig weniger stark an Einwohnern verlieren oder sogar leicht zulegen. "Aber der ländliche Raum ist Ostdeutschland ist massiv betroffen."

Arbeitsmarkt: Boomer nicht zu ersetzen

Die Überalterung wirkt sich zunächst massiv auf den Arbeitsmarkt aus. Ein knappes Drittel aller Arbeitskräfte in Deutschland – rund 13,4 Millionen Menschen – wird in den kommenden 14 Jahren in den Ruhestand wechseln, schätzt das Statistische Bundesamt. Nachrückende jüngere Altersgruppen ersetzen das zahlenmäßig nicht. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln prognostiziert, dass deshalb die Anzahl potenziell Erwerbstätiger bis 2040 um drei Millionen Menschen sinkt, ein Rückgang um sechs Prozent.

Mitteldeutschland verliert am stärksten. In Sachsen zum Beispiel sinkt die Anzahl der Erwerbspersonen bis 2040 um 13 Prozent, ähnlich in Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Weniger Erwerbstätige bedeuten weniger Beitragszahler, die Grundlage der Sozialkassen erodiert. Um die Folgen abzufedern, empfehlen Fachleute Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbstätigkeit der verbliebenen Berufstätigen: "Wir können einen Beitrag für die Sozialversicherungen leisten, indem das Erwerbsvolumen der Beschäftigten steigt." Im Blick hat Spieß vor allem Frauen. Deutschland habe in der EU eine der höchsten Teilzeitquoten bei Frauen. Um das zu ändern, bräuchte es unter anderem mehr Krippen- und Kitaplätze sowie Änderungen am Steuersystem, etwa eine Abschaffung des Ehegattensplittings.

Der Volkswirtschaftler Alexander Kemnitz von der TU Dresden rät im Gespräch mit MDR AKTUELL dazu, neben der Frauenerwerbstätigkeit die Zuverdienstgrenzen beim Bürgergeld in den Blick zu nehmen. "Je nachdem, in welcher Einkommensklasse man sich bewegt, bleibt von einem Euro, den sie zusätzlich verdienen, am Ende vielleicht nur 20 Cent übrig." Das sei ein "echtes Hindernis" für mehr Beschäftigung. Als weitere mögliche Maßnahmen nennt er eine höhere Lebensarbeitszeit, was die Regierung durch eine Aktivrente fördern will, oder mehr Zuzug aus dem Ausland.

Ein zusätzlicher Faktor ist der Fortschritt. Durch Digitalisierung, Automatisierung und Robotik werden künftig Tätigkeiten wegfallen. Forscherin Spieß sagt: "Da kommt auf die Gesellschaft einiges zu, was aber im Kontext des demografischen Wandels auch als Chance gesehen werden kann."

Rente: Viele Reformvorschläge auf dem Tisch

Aus den ehemaligen Beitragszahlern werden Millionen neue Rentnerinnen und Rentner – und das bei allgemein steigender Lebenserwartung. Für die Rentenversicherung bedeutet das große Belastungen. Das Dresdner Ifo-Institut hat errechnet, dass der Beitragssatz bei ausbleibenden Reformen bis 2050 auf 22 Prozent des Bruttoeinkommens steigen müsste. Momentan liegt er bei 18,6 Prozent. Außerdem müsste der Bundeszuschuss von heute 120 Milliarden auf rund 150 Milliarden Euro jährlich erhöht werden.

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung sprach bereits Ende 2023 von einer "akuten Phase der demografischen Alterung", der ein Reformpaket "unverzichtbar" mache. Die Ökonomen schlugen unter anderem vor:

  • Koppelung des gesetzlichen Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung. Anders ausgedrückt: Leben die Menschen statistisch länger, sollen sie länger arbeiten.
  • Steigerung der Bestandsrenten anhand der Inflation und nicht anhand der Lohnentwicklung.
  • Aktienbasierte private Altersvorsorge (Ersatz der Riester-Rente)
  • Stärkung des sogenannten Nachhaltigkeitsfaktors. Er berücksichtigt schon bislang das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern und dämpft die Erhöhung der Renten.

Weitere Vorschläge in der Debatte sind eine höhere Förderung von Betriebsrenten oder eine Ausweitung des Kreises der Versicherten auf Beamte und Selbstständige. Letzteres würde die Rentenversicherung laut Sachverständigenrat jedoch nur kurzfristig entlasten und langfristig die Finanzprobleme verschärfen. Ein weiterer Aspekt sind Frührenten. Viele Menschen gehen vorzeitig in den Ruhestand. Eine Erhöhung der Abschläge könnte das unattraktiver machen.

Pflege: Wachsender Bedarf bei fehlendem Personal

Mit der Alterung der Menschen in Deutschland steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Allein seit 2025 hat sich ihre Anzahl ungefähr verdoppelt – obwohl die Babyboomer noch gar nicht im höheren Alter angekommen sind. Das führen Fachleute auch auf einen erleichterten Zugang und mehr Single-Haushalte zurück. Die Kosten explodieren. Sie haben sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Aufgefangen wurde das bislang durch höhere Beiträge und steigende Eigenanteile der Pflegebedürftigen in der Heimunterbringung.

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitet seit Juli am Vorschlägen dazu, wie man die Beiträge stabilisieren und die Belastung der Pflegebedürftigen verringern kann. Es brauche eine "mutige Reform", sagt Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Die Kommission soll unter anderem prüfen, wie pflegende Angehörige gestärkt werden können, welche Potenziale präventive Maßnahmen haben oder welche Kosten durch Digitalisierung gespart werden können.

Im Gespräch sind diverse weitere Vorschläge. Ministerin Warken sieht mehr private Vorsorge und mehr Steuergeld zur Finanzierung als Teile der Lösung. Der Wirtschaftsweise Martin Werding mahnt weniger Leistungsumfang an. Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) will den Eigenanteil deckeln – und die gesamte Finanzierung auf den Prüfstand stellen.

Neben dem Geld gibt es aber noch ein weiteres großes Problem: das verfügbare Personal. Bereits heute gibt es Engpässe. Nach einer Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden bis 2030 durch den demografischen Wandel 600.000 neue Stellen im Gesundheits- und Sozialwesen nötig. Fraglich ist, wo diese Fachkräfte herkommen sollen.

Krankenversicherung: Viele Probleme neben der Demografie

Auch wenn wir im Durchschnitt alle länger und gesünder leben – ältere Menschen sind öfter krank als jüngere Menschen. Insofern ist der demografische Wandel ein Kostentreiber im Gesundheitssystem.

Auch zur Reform der Krankenversicherung hat eine Expertenkommission die Arbeit aufgenommen. Im Arbeitsauftrag ist die Lage beschrieben. "Nach den erheblichen Anhebungen der Zusatzbeiträge zum Jahreswechsel 2024/2025 sind – ohne weitere Maßnahmen – in den nächsten Jahren weitere starke Anstiege zu erwarten."

Die Liste der möglichen Maßnahmen in diesem Bereich ist sehr lang. Unter anderem stehen zur Debatte:

  • Reform der Krankenhausfinanzierung inklusive Schließung von Häusern
  • Abbau von Bürokratie und Heben von Potenzialen durch digitale Prozesse
  • Über- und Fehlversorgungen abbauen
  • Telemedizin stärken
  • Besseres Zusammenspiel von ambulantem und in den stationärem Bereich
  • Reform der Regeln, nach denen Arzneimittelpreise festgelegt werden
  • u.v.m.

Fachleute mahnen zu Reformen

Angesichts der Herausforderungen sehen die Fachleute die Bundesregierung in der Pflicht. Bevölkerungsforscherin Spieß wünscht sich, dass die Politik die Systeme nicht nur kurzfristig stabilisiert, sondern nachhaltige Maßnahmen ergreift. Bildungspolitik sei zentral. "Es ist wichtig, dass wir frühkindlich anfangen, alle Potenziale zu entwickeln, gerade wenn wir weniger Menschen werden und uns anschauen, wie schmal die Bevölkerungspyramide an ihrem Sockel ist – und wie viele Kinder dort vielleicht schlechtere Bedingungen haben."

Es wird Verlierer geben, geben müssen.

Alexander Kemnitz, VolkswirtschaftlerTU Dresden

Volkswirtschaftler Kemnitz sagt, bei der Finanzierung der Sozialversicherungen könne in der bisherigen Form nicht weitergehen. "Da gibt es jetzt nicht irgendwo den Knopf, den man drücken kann und alles ist gut. Es wird Verlierer geben, geben müssen." Alle Reformvorschläge lägen lange auf dem Tisch.

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