„Akzeptiert den Deal“ – Vor der Offensive brüllt der Armeechef Netanjahu an
Israel hat in der Nacht zum Dienstag eine neue Bodenoffensive zur Einnahme von Gaza-Stadt begonnen, wie die israelische Armeeführung und Premierminister Benjamin Netanjahu erklärten. Demnach hat die IDF zwei Divisionen mit zehntausenden von Soldaten in Bewegung gesetzt, um die Hauptstadt des Gaza-Streifens einzunehmen und damit eine „neue Phase“ im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas zu starten.
Laut Armeeführung expandieren die 162. und die 98. Division ihre Operationen in Gaza-Stadt, in den kommenden Tagen soll sich auch eine dritte Division, die 36., den Kämpfen anschließen. Eine weitere Division beteilige sich zudem an defensiven Operationen in der Pufferzone in Nord Gaza. In den vergangenen Wochen hatte Israel weitere 60.000 Reservisten mobilisiert für die neue Offensive in Gaza.
In der Nacht hatte die israelische Luftwaffe auch ihre Luftangriffe auf Ziele in Gaza-Stadt ausgeweitet. Insgesamt habe Israel in der vergangenen Woche über 850 Ziele und hunderte von Hamas-Kämpfern in Gaza Stadt angegriffen als Vorbereitung für die nun gestartete Bodenoffensive, so ein IDF-Sprecher. Die Operation sei darauf ausgelegt, die übergeordneten Kriegsziele zu erreichen, nämlich die Freilassung der israelischen Geiseln aus der Hand der Terroristen und eine Niederlage der Hamas.
Laut Schätzungen der israelischen Armeeführung halten sich noch bis zu 3000 Hamas-Kämpfer in Gaza-Stadt versteckt. Unter der Stadt befinde sich ein ausgedehntes, unterirdisches Tunnelnetzwerk der Terrororganisation.
Die israelischen Operationen werden jedoch dadurch erschwert, dass sich noch immer viele palästinensische Zivilisten in der Stadt befinden. Laut IDF-Schätzungen haben etwa 40 Prozent der Bewohner Gaza-Stadt inzwischen verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Es sollen sich jedoch noch immer etwa 600.000 palästinensische Zivilisten dort aufhalten. Die radikalislamische Hamas hatte in den vergangenen Wochen versucht, die Bewohner von Gaza-Stadt am Verlassen des umkämpften Gebietes zu hindern.
Israel muss international viel Kritik einstecken für seine anhaltenden Angriffe auf Gaza, aber auch intern ist die erneute Offensive stark umstritten. Auch die amerikanische Regierung hat sich skeptisch geäußert über die anhaltenden Kämpfe und die Aussichten auf einen Waffenstillstand. US-Außenminister Marco Rubio sagte bei einem Besuch in der Region, es gäbe „ein sehr kleines Zeitfenster, in dem ein Deal stattfinden kann. Es ist ein Schlüsselmoment – ein wichtiger Augenblick.“ Rubio sagte, ein „verhandeltes Ende“ des Konfliktes sei immer noch die beste Alternative.
Plädoyer für einen Waffenstillstand aus der Armee
Auch die israelische Militärführung plädiert seit Wochen dafür, die Bemühungen um einen Waffenstillstand zu intensivieren, statt eine neue Offensive zu starten. So soll es am Sonntag zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Generalstabschef Eyal Zamir und Mitgliedern der Netanjahu-Regierung gekommen sein.
Zamir warf der politischen Führung und Mossad-Chef David Barnea vor, nicht genug Anstrengungen zu unternehmen, um ein Waffenstillstands-Abkommen zu erreichen. „Akzeptiert den Deal!“, soll Zamir laut israelischen Medienberichten gerufen haben. Netanjahu warf dem IDF-Chef seinerseits vor, die politische Führung mit gezielten Leaks zu torpedieren. „Das kann so nicht weitergehen“, soll Netanjahu laut einem Bericht des TV-Senders Channel 12 gesagt haben. „Wir haben die Entscheidung getroffen, und ihr müsst sie ausführen.“ Netanjahu erinnerte Zamir an das Primat der Politik in der israelischen Demokratie. „Das ist hier keine Armee, die sich ein Land hält, sondern ein Land, das über eine Armee verfügt“, soll der Premier gesagt haben.
Die IDF-Führung weist seit Längerem darauf hin, dass die vor allem aus Reservisten bestehende Bürgerarmee Israels nach fast zwei Jahren Krieg erschöpft ist. Es gibt zudem Zweifel daran, ob die Politik tatsächlich über ein realistisches strategisches Ziel zur Ausschaltung der Hamas und zur Befriedung Gazas verfügt. Israel, so die Kritiker, erschöpfe sich nur in immer neuen Militäroperationen, ohne eine klare Idee davon zu haben, wie die Sache beendet werden könne.
Mitglieder der Netanjahu-Regierung weisen jedoch ihrerseits darauf hin, dass die Hamas nur zu Konzessionen und einem Waffenstillstand zu für Israel annehmbaren Bedingungen bereit sein wird, wenn der militärische Druck auf die Terrororganisation hoch bleibt. Trotz der Differenzen mit der Netanjahu-Regierung war Zamir dann am Dienstag aber offenbar persönlich in Gaza, um die Offensive anzuführen – ein Novum für einen israelischen Generalstabschef.
Angesichts der scheinbar festgefahrenen Lage in Gaza prägt die israelische Gesellschaft in diesen Tagen vor allem eines: Eine tiefe Ratlosigkeit. Wohin führen die militärischen Schläge und der Krieg in Gaza?
Konservative und Rechte äußern natürlich Unterstützung für das Vorgehen der Regierung. Sie sind überzeugt davon, dass Israel sich in einem akuten Überlebenskampf befindet, dass dies der Zeitpunkt sei, um Terrornetze endgültig zu zerschlagen und einen neuen Nahen Osten zu schaffen.
Sorge vor dem Schreckensszenario eines Kampfes ohne Ende
Hinter vorgehaltener Hand äußern aber selbst Regierungsvertreter und Militärstrategen Zweifel, ob der Terror sich wirklich ein für alle Mal beenden ließe. Was hindert Extremisten daran, im Libanon, im Jemen oder wo auch immer neue Strukturen aufzubauen? Der Hass auf Israel ist ja noch da. Vielleicht stärker denn je. Die Sorge ist da, dass es ein Kampf ohne Ende werden könnte. Außerdem vermissen viele einen Plan der Regierung für den Tag danach. Gibt es ihn nicht? Oder wie sieht er aus? Die Regierung äußert sich dazu nicht.
Und dann ist da die liberale Mitte, die in Tel Aviv die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Jeden Freitagabend treffen sich tausende Menschen auf dem Hostage Square im Zentrum der Stadt. Viele junge Menschen, IT-Spezialisten, die urbane Elite. Vom Westen fühlen sie sich nahezu ungesehen. Es seien eben nicht die Israelis und die Juden, die es gut fänden, was in Gaza geschieht, betonen sie immer wieder. Die Realität der israelischen Gesellschaft sei viel komplexer, als es im Westen erscheine.
Wobei: Liberale Mitte heißt nicht, dass die Menschen hier nachsichtiger gegenüber Terror seien. Viele sagen bloß: Erst die Geiseln befreien, dann die Hamas beseitigen. Auch ist die liberale Mitte kritisch bis ablehnend, was einen möglichen Staat Palästina angeht und sie empfindet Äußerungen des Westens als einseitig verurteilend. Ihre Hauptsorge aber ist, wie Israel künftig aussehen könne. Als ein Land – fast – ohne Freunde? Mit hohen Mauern, religiöser, extremer. Eine militaristische, orthodoxe Zukunft? Der liberalen Mitte Israels graut es vor diesem Szenario.
Constantin Schreiber ist Teil des Axel Springer Global Reporters Netzwerk, zu dem neben WELT auch „Bild“, „Business Insider“, „Onet“ und „Politico“ gehören.
Clemens Wergin ist seit 2020 Chefkorrespondent Außenpolitik der WELT. Er berichtet vorwiegend über den Ukraine-Krieg, den Nahen Osten und die USA.
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