Anteil geringqualifizierter junger Erwachsener fast nirgends so hoch wie in Deutschland
Noch nie waren so viele Menschen formal so gebildet wie heute. Fast die Hälfte aller jungen Erwachsenen (48 Prozent) in OECD-Ländern legt einen Hochschulabschluss oder eine Meisterprüfung ab. Damit ist der Bildungsstand auf dem Papier so hoch wie nie zuvor, der Anstieg ist rasant. Noch im Jahr 2000 waren es nur 27 Prozent. Das besagt die neue Studie „Bildung auf einen Blick“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Studie untersucht jährlich die Bildungserfolge in den 38 Mitgliedsländern.
Dieses Jahr haben die Forscher ein besonderes Augenmerk auf den sogenannten tertiären Bildungsbereich gelegt, also den Abschluss, der nach dem Abitur erfolgt. In Deutschland liegt der Anteil junger Erwachsener im Alter zwischen 25 und 34 Jahren mit Universitätsabschluss mit 40 Prozent deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Allerdings ist er besonders schnell angestiegen, im 2019 hatte er noch bei 33 Prozent gelegen.
Sorge bereitet den Forschern allerdings etwas anderes: Fast nirgendwo sonst ist der Anteil geringqualifizierter junger Erwachsener so hoch wie in Deutschland. 15 Prozent der Menschen zwischen 25 und 34 Jahren hierzulande haben weder das Abitur noch eine Berufsausbildung. Dieser Anteil ist in den vergangenen fünf Jahren um zwei Prozentpunkte gestiegen. Unter den 22 EU-Mitgliedsländern im OECD-Raum weisen nur Italien, Portugal und Spanien einen höheren Anteil junger Menschen ohne Abschluss auf. Die „wachsende Kluft bei den Bildungsabschlüssen in Deutschland“ sei „besonders besorgniserregend“, heißt es in der Studie.
„Das ist eine Sache, über die wir uns große Sorgen machen müssen“, sagte Staatssekretärin Mareike Wulf, die bei der Vorstellung des Berichts die erkrankte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) vertrat. „Wir müssen junge Leute gezielter in die Ausbildung führen, nicht zuletzt auch um die Leistungsfähigkeit unseres Landes zu erhalten. Schließlich haben wir momentan die kleinste Menge junger Menschen, die wir je in diesem Land hatten. Wir werden nachqualifizierende Wege zu einem Berufsabschluss ausbauen und bekannter machen, unter anderem den Ausbau von Teilqualifikationen.“
Dafür sollen Berufsbilder in einzelne Teile zerlegt werden, die es jungen Erwachsenen ohne Abschluss ermöglichen soll, nur Teile eines bestimmten Berufes auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen. Zudem solle übergreifend in frühkindliche Bildung investiert und die gezielte Sprachförderung von vier- und fünfjährigen Kindern vor der Einschulung entschieden ausgebaut werden.
Denn nirgendwo sonst in allen teilnehmenden OECD-Ländern klaffen grundlegende Kompetenzen so weit auseinander wie in Deutschland.
Die Forscher haben die Fähigkeiten Erwachsener im Lesen getestet: In Deutschland erreichen 23 Prozent der 25- bis 64-Jährigen nur ein Lesekompetenzniveau auf oder unter der niedrigsten Stufe; das heißt, dass sie – wenn überhaupt – nur sehr kurze Texte verstehen können. Zwar liegt Deutschland damit etwas besser als der OECD-Durchschnitt (27 Prozent). Aber die Unterschiede zwischen den guten und den schlechten Lesern sind hierzulande besonders groß.
Nur zwei Prozent der Erwachsenen erreichen die höchste Kompetenzstufe im Lesen: Sie können Informationen in mehreren anspruchsvollen Texten zusammenstellen und beurteilen, Synthesen entwickeln und Folgerungen auf hohem Niveau ziehen.
Die Lesefähigkeit wurde in Punkten gemessen. Während die guten und die schlechten Leser im OECD-Schnitt um 73 Punkte auseinander liegen, sind es in Deutschland 100 Punkte. In den vergangenen zehn Jahren konnten die guten Leser ihre Fähigkeiten leicht steigern, während sich die Lesefähigkeit der Erwachsenen auf dem untersten Niveau noch einmal deutlich um 19 Punkte verschlechtert hat.
„Wir müssen über die Lehrerausbildung reden“, folgerte die Präsidentin der Wissenschaftsministerkonferenz, Bettina Martin. „Wir müssen besser und zielgerichteter Lehrer ausbilden und zudem die Wirkung von Bildungsmaßnahmen konsequent überprüfen.“
Und noch eine ernüchternde Nachricht: Die am besten Qualifizierten der deutschen Gesellschaft haben ein genauso großes Risiko, arbeitslos zu werden, wie diejenigen, die zwar über ein Abitur verfügen, aber nicht studiert haben. Die Erwerbslosenquoten liegen mit 2,5 Prozent bei den Uni-Absolventen und 2,6 Prozent bei denjenigen, die eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, nahezu gleich hoch.
Es lohnt sich aber trotzdem, auf die Uni zu gehen oder eine Fachhochschule zu besuchen. Diejenigen mit einem Bachelor, Master, einem Meisterbrief oder einem Techniker-Abschluss verdienen in Deutschland durchschnittlich 50 Prozent mehr als die, die diese Abschlüsse nicht haben, sondern nur eine Ausbildung. Das entspricht etwa dem OECD-Durchschnitt.
Selbst nach Berücksichtigung der Kosten für eine Ausbildung in diesem sogenannten Tertiärbereich des Bildungssystems beträgt der finanzielle Vorteil im Laufe des Lebens im OECD-Durchschnitt mehr als 300.000 US-Dollar. Und wer einen Abschluss in MINT-Fächern hat – also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik –, verdient in Deutschland noch einmal rund zehn Prozent mehr.
Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Deutschland besonders viele ausländische Studenten anzieht: Ihr Anteil ist zwischen 2013 und 2023 deutlich von 7,1 auf 12,7 Prozent gestiegen und liegt damit weit über dem OECD-Durchschnitt von 7,4 Prozent.
Viele Kinder nicht-studierter Eltern finden sich unter den Uni-Absolventen allerdings nicht. Nach wie vor schaffen in Deutschland besonders wenige junge Menschen einen Hochschul-Abschluss, wenn ihre Eltern keine Akademiker sind. Nur etwa einem Fünftel von ihnen gelingt es, ein Studium abzuschließen.
Manch andere europäische Länder haben indes gezeigt, dass es möglich ist, den Bildungserfolg vom Einfluss des familiären Hintergrundes abzukoppeln. Belgien, Großbritannien und Dänemark haben es geschafft, erheblich mehr Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern durch gezielte Maßnahmen zu einem Uni-Abschluss zu bringen. In Dänemark etwa stieg der Anteil dieser jungen Erwachsenen seit 2012 um 20 Prozentpunkte auf 49 Prozent.
Politikredakteurin Freia Peters berichtet für WELT über Familien- und Gesellschaftspolitik sowie Bildung.
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