Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen die Menschen in Ostdeutschland ein Fünftel weniger als im Westen. Es ist endlich Zeit für eine ehrliche Bilanz. 

Die Ostdeutschen, die voll arbeiteten, erhielten im vergangenen Jahr im Durchschnitt 50.625 Euro. Das waren gut 2500 Euro mehr als im Jahr zuvor. Eine gute Nachricht, zweifellos. 

Doch bekanntlich ist alles im Leben relativ. Dies gilt insbesondere für ein Land, das für 40 Jahre geteilt war –  und es in gewisser Weise immer noch ist. Und dies, obwohl es inzwischen seit fast ebenso vielen Jahren wiedervereinigt ist. 

Denn auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik kamen Vollbeschäftigte voriges Jahr durchschnittlich auf einen Bruttolohn von rund 64.000 Euro. Das waren gut 13.400 Euro mehr als im Osten. Die westöstliche Gehaltsdifferenz wuchs damit wieder auf 21 Prozent.

Ostdeutschland liegt in fast allen Bereichen zurück

Überraschen kann das nicht. Ostdeutschland liegt in nahezu allen entscheidenden Parametern hinter Westdeutschland, ob nun bei Wirtschaftskraft, Wertschöpfung, Produktivität, Investitionen oder der Forschung. Die Menschen hier sind im Durchschnitt älter, obwohl die Lebenserwartung geringer ist. Und sie werden weniger, was nicht nur an der niedrigeren Geburtenrate liegt, sondern an der immer noch anhaltenden Abwanderung auf dem Land.

Dazu bleibt der Wohlstand extrem unterschiedlich verteilt. So wurde etwa im Jahr 2022 im Westen pro Einwohner neunmal so viel Vermögen vererbt als in den angeblich neuen Ländern. Auch die Tatsache, dass kein Dax-Konzern im Osten sitzt, hat sich seit 1990 nicht verändert.

Wenn also am 3. Oktober mal wieder ein rundes Jubiläum gefeiert wird, wenn wieder große Reden gehalten und politische Bilanzen gezogen werden, dann ist es Zeit, sich endlich ehrlich zu machen: Der sogenannte Aufbau Ost ist als Nachbau West final gescheitert.

Bericht: Lohnlücke zwischen Ost und West vergrößert sich auf mehr als 13.000 Euro

Deutschland bleibt nicht nur ökonomisch, sozial und demografisch geteilt, sondern auch politisch und kulturell. Die Wahlergebnisse sprechen für sich. 

Natürlich sind einige ostdeutsche Städte besser saniert als westdeutsche Kommunen, und dies bei niedrigeren Lebenshaltungskosten. Und natürlich gibt es im Westen reichlich abgehängte Regionen mit hohen AfD-Ergebnissen.

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Dennoch lassen die Daten im Durchschnitt nur einen Schluss zu: Die deutsche Teilung hat sich in den 35 Jahren nicht aufgelöst. Sie hat vielmehr derart verfestigt, dass sie auch in den nächsten 35 Jahren nicht egalisiert werden kann. Der Soziologe Steffen Mau drückte es zuletzt im Titel seines klugen Buchs nur etwas freundlicher aus: Deutschland, schrieb er, sei "ungleich vereint".  

Diese Einsicht schmälert nichts an der großartigen Errungenschaft, dass alle Deutschen seit 1990 dieselben Grund- und Freiheitsrechte besitzen. Es schmälert nichts an den gigantischen Transferleistungen. Und es schmälert nichts an den Fortschritten im Osten seit 1990, in der Infrastruktur, der Umwelt und auch dem Wohlstand. Niemand hier will ernsthaft die DDR zurück, die Wähler von AfD, BSW oder Linke eingeschlossen.

Dennoch ist zu beobachten, wie sich in den Jahrzehnten eine eigene ostdeutsche Identität gebildet hat, die sich von Generation zu Generation vererbt. Gleichzeitig wachsen wieder die gegenseitigen Ressentiments. Spätestens mit den überdurchschnittlichen Wahlerfolgen der AfD im Osten ist auch die Ossi-Verachtung zurückgekehrt, die wiederum entsprechende Reaktionen zeitigt. Oder umgekehrt.

Die Fehler der Wiedervereinigung

Was tun? Der erste Schritt wäre, das Scheitern anzuerkennen, nüchtern, sachlich, differenziert – und ohne wohlfeile Schuldzuweisungen. Auch wenn richtig ist, dass das, was heute zu beklagen, vor allem aus Fehlern in den frühen 1990er Jahren resultiert: Sie waren zum großen Teil aus Dilemmata und Überforderung geboren. 

Der zweite Schritt wäre, Ostdeutschland neu zu denken, nicht als teure, aber dysfunktionale Kopie der Bundesrepublik oder gar als blaue Gefahrenzone, die man lieber sich selbst überlässt. Sondern als Gebiet, in dem viele Dinge, die auch dem Westen dräuen, nur ein paar Jahre früher und um einiges drastischer geschehen. 

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Im dritten Schritt ließe sich Ostdeutschland, das seit 1945 immer ein unfreiwilliges Experimentierfeld war, anders als bisher fördern. Nicht mit Großinvestitionen, die am Ende sowieso nicht funktionieren und noch mehr Transfergeldern, sondern mit einem Fokus auf Forschung, Start-ups, Digitalisierung – und dies in Modellregionen, in denen tatsächlich Ausnahmeregeln gelten.

Die Idee ist nicht neu. Und es gibt noch viele andere Ideen. Doch sie wurden bisher bestenfalls am Rande debattiert, nie im Zentrum einer Gesellschaft, deren Eliten fast vollständig westdeutsch geprägt sind.

Das muss sich ändern. Wir Deutschen müssen aufhören, uns über die Einheit selbst zu belügen, in Ost wie in West. Sonst bleibt unser Land das, was es seit 80 Jahren ist: in vielen Bereichen geteilt.

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