In jener Gegend, die einst DDR hieß, lässt sich vieles nur aus dieser Vergangenheit heraus erklären. Zum Beispiel der Name des Lokals, in das ich zuweilen einkehre.

Als ich jung war, also schon vor einer geraumen Weile, lief eine Fernsehserie, die in einer Bar spielte und fast nie woanders. Für die Menschen, die sich dort trafen, war sie ein zentraler Ort in ihrem Leben. Dass sie dort ein Bier (oder fünf) tranken oder eine Zigarette (oder eine Schachtel) rauchten, geriet zur Nebensache. Es ging, jenseits der gut getimten Dialoge, um etwas Anderes, Tieferes, Existenzielles.

"Sometimes you wanna go, where everybody knows your name / And they're always glad you came". Manchmal willst Du dort sein, wo jeder Deinen Namen kennt und wo sie froh sind, dass Du kamst. So lautete der Refrain der Titelmelodie von "Cheers". 

"You wanna be where you can see / Our troubles are all the same." Du willst dort sein, wo Du sehen kannst, dass wir alle die gleichen Probleme haben.

Wenn ich an manchem mehr oder minder problembehafteten Tag aus der Erfurter Regierungsstraße in den Klostergang einbiege, und danach eintrete in jenes kleine Haus, dessen Erdgeschoss fast vollständig hinter einer hohen Hecke verborgen ist, dann nicht nur deshalb, um ein gezapftes Helles aus lokaler Brauereiproduktion zu trinken, sondern vielmehr, um dort die Menschen zu treffen, die ich nicht ausschließlich, aber doch vor allem an diesem Ort antreffen kann. 

Die Kathrin, von der ich eine Zigarette schnorre, oder schlauche, wie es einst bei mir auf dem Dorf hieß. Die Jana, die im Stadtrat sitzt und wunderbar animiert davon erzählen kann, was der Oberbürgermeister wieder für einen Quatsch anstellt. Der Ludwig, der beinahe so gut wie ich Großspurigkeit und Befindlichkeit miteinander vereint. Der Stefan, der kluge Bücher liest und noch klüger darüber spricht. Der Fabian, der in einer Minute mehr originelle Ideen hat als ich an einem Tag.

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?

Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Und dann, natürlich: der Gunter, der aussieht wie eine gut gereifte Mischung aus Roadie, Punker und Großschriftsteller, mit seinen kunstvollen Tätowierungen am rechten Arm und der Heiner-Müller-Gedächtnisbrille im Gesicht. Er ist der Inhaber, der Chefbarkeeper und ja, die Essenz jenes Lokals, das er, als er es vor genau 20 Jahren eröffnete, CKB nannte.

CKB – das steht laut der im Netz auffindbaren Eigenbeschreibung für "Café / Kunst / Bar". Doch in Wahrheit ist das Kürzel die Chiffre für etwas, das sehr persönlich ist, das Gunter verändert hat, das ihn zu dem machte, der er heute ist.

Wir Menschen, zumindest die meisten von uns, hadern mit unseren Fehlern, unserer Prägung, unserem Glauben, unseren Grenzen, unserer Sterblichkeit. Dies kann bewusst geschehen, bestenfalls selbstreflektiert. Oder es geschieht eher unbewusst, mit all den zugehörigen Verdrängungs- und Kompensationsmechanismen. Das Hadern ist besonders stark in jener Gegend, die – jaja, ich weiß, immer der gleiche Singsang – vor nahezu 35 Jahren aufhörte, als Staat zu existieren. Einer Region, die, wie Ilko-Sascha Kowalczuk so klug sagt, ein gemeinsamer Erfahrungsraum war. Ein Raum kollektiver und politisch ausbeutbarer Erinnerungen, aber auch ein Raum voller unbewältigter Traumata. 

Damals, in der DDR

Als Gunter Harms 1962 in Erfurt geboren wurde, war die Berliner Mauer gerade gebaut. In der Schule fand er Freunde, mit denen er nicht den obrigkeitsstaatlich vorgestanzten Weg ging, sondern der Disziplinierung durch das System widerstand. Er war in der evangelischen Jugend, debattierte mit Dissidenten, trug "Schwerter-zu-Pflugscharen"-Aufnäher. Den Armeedienst verweigerte er. 

Die DDR-Obrigkeit reagierte mit dem vieltausendfach eingeübten Repressionsmuster. Gunter wurde nicht zum Abitur zugelassen, sondern bekam eine Maurerlehre zugewiesen. Nach einigen Jahren auf dem Bau wurde er dann natürlich trotzdem zur Armee eingezogen, ohne Waffe zwar, aber dafür mit umso mehr Schikanen. 

Als sogenannter Bausoldat war Gunter für eineinhalb Jahre in Bitterfeld kaserniert, sieben Tage die Woche, fast ohne Ausgang. Seinen Dienst verrichtete er an den Aluminiumschmelzwannen der Chemieindustrie, in rollierenden Schichten, inmitten sengender Hitze und Bauxit-Dämpfen. Einigen Arbeitern waren schon die Zähne ausgefallen, alles roch nach Verfall. Der Maschinenpark stammte noch von 1919.

Die Fabrik, in der er arbeitete, gehörte zum Chemiekombinat Bitterfeld. Dem CKB. Noch viele Jahre danach hätten ihn Albträume geplagt, sagt Gunter. "Es war eine schlimme Zeit." 

© Sascha Fromm

Ganz Naher Osten

stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst

Doch es wurde besser. Kurz nach dem Ende des Bitterfelder Frondienstes endete auch die Herrschaft der SED, und Gunter musste nicht mehr Maurer sein. Für ein verrücktes Wendejahr arbeitete er in der Galerie des Staatlichen Kunsthandels, bis das Unternehmen, wie so vieles andere auch, restlos abgewickelt wurde. Danach holte Gunter das nach, was ihm die DDR verweigert hatte, und studierte über ein paar Umwege Bautechnik. Mit seiner Freundin, mit der er einen Sohn hatte, arbeitete er in einem von ihr gegründeten Unternehmen für Landschafts- und Gartenbau.

Dann, vor gut 20 Jahren, der erneute Bruch, mit der Frau, der Firma. Gunter zog zurück nach Erfurt. Die Wohnung, die er fand, befand sich über einem Café, das schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb war. 

Was nun? Kurz nach dem Einzug kamen alte Freunde zu Besuch, es wurde viel Wodka getrunken, und plötzlich verschmolz all das, was Gunter bis Anfang 40 erlebt und erfahren hatte, wie Bitterfelder Aluminium zu einer großartig verrückten Idee: Wie wäre es, das Café im Erdgeschoss umzubauen, zu einer echten Bar, mit guter Musik, ehrlichen Preisen, dazu mit Ausstellungen, Vorträgen, Lesungen. Die CKB.

Und so kam es. Der Bautechniker Gunter plante, der Maurer mauerte, der Galerist richtete ein. Binnen eines halben Jahres stand er hinter seiner eigenen Theke, jeden Tag, von 17 Uhr bis tief in die Nacht. Ruhetage gab es genauso wenig wie Urlaub.

Kolumne Ganz Naher Osten Die Safari-Grünen und ihr Ostproblem

Es dauerte drei Jahre, bis die CKB ein Stammpublikum aufgebaut hatte und moderaten Umsatz generierte. Gunter beschäftigte Studenten als Minijobber, die ihre Kommilitonen mitbrachten. Die Kundschaft verjüngte sich, die Ausstellungen wechselten sich ab, Fotografie, Malerei, Emaille. Bei großen Fußballturnieren wurden die Spiele auf einer Leinwand gezeigt. Es lief.

Dann kam die Pandemie, und im Katalog der Corona-Hilfsmaßnahmen war eine Bar, deren Inhaber sich selbst angestellt hatte, nicht vorgesehen. Gunter hatte plötzlich keine Einnahmen mehr, nur Mietausgaben. Ohne die zwei von den Stammgästen organisierten Spendenaktionen gäbe es heute die CKB nicht mehr.

Okay, klar, wenn sich nicht draußen sitzen lässt, ist es nicht unbedingt gesundheitsfördernd, mehrere Stunden in der liebevoll zugerauchten Bar zu verbringen, zumal die Klamotten danach komplett in die Wäsche müssen. Aber das ist egal. Die CKB gehört zu jenen Orten, die mich versöhnen mit dem, was sonst gemeinhin über den sogenannten Osten gesagt wird. Sie ist, sorry, jetzt wird es pathetisch, ein Ort, der Zuhause bedeutet, der Hoffnung gibt, der Identität stiftet.

Als Olaf Schubert Bier ausschenkte

Vielleicht es ja so, dass Gunter auf der Suche nach dem, was er ist, freundlicherweise einfach ein paar von uns mitgenommen hat. Vor ein paar Tagen bog ich mal wieder auf meinem Rad von der Regierungsstraße in den Klostergang ein. Wir saßen auf der langen Bank zwischen der Hecke und dem Bareingang. Ich schlauchte eine Zigarette von jemandem, der gerade da saß, und trank, es war ein Arbeitstag, ein alkoholfreies Biobier, während Stefan über das neue Christoph-Hein-Buch berichtete und Gunter davon erzählte, wie einst Olaf Schubert betrunken die Gäste bediente und Ute Freudenberg auf der Bank in der Ecke saß. Was wir Ossis halt so für Promis haben.

Dann listete der Bausoldat, der zum Barbesitzer wurde, die vier coolen Punkbands auf, die an diesem Wochenende, zum 20. Kneipenjubiläum, auf der Straße vor der CKB auftreten. Ich konnte mit den Namen nicht viel anfangen, und das sagte ich auch. Ich sei halt ein Banause, versuchte ich mein Unwissen kokett zu bemänteln. Da setzte Gunter ein mildes Lächeln auf, ließ es dezent ins Ironische oszillieren, schaute mich an und antwortete: "Ich weiß doch, Martin. Ich kenne Dich."

  • DDR
  • Bitterfeld
  • Ostdeutschland

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke