Das Dokument vom 29. Juli ist mit dem Wort „Alert“ überschrieben, zu Deutsch: „Alarm“. International sorgt das Papier für Aufsehen. Die BBC berichtet darüber, CNN und der britische „Guardian“. Denn die Warnung, verfasst von Experten der Initiative IPC (Integrated Food Security Phase Classification), klingt eindeutig: „Das schlimmstmögliche Szenario einer Hungersnot spielt sich derzeit im Gaza-Streifen ab.“

WELT erfuhr: Am Freitagvormittag gegen 11 Uhr beabsichtigt die IPC den nächsten Bericht zur Lage in Gaza vorzulegen. Es gibt Stimmen, die fordern, dass die internationale Initiative, der 21 Organisationen angehören – darunter die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Verbund Oxfam – nun auch offiziell eine Hungersnot ausruft – die sogenannte „Phase 5“, die größtmögliche Alarmstufe.

Doch während die einen die IPC zu drastischen Maßnahmen ermutigen, wachsen bei anderen die Zweifel an der Verlässlichkeit und Unabhängigkeit der IPC-Berichte. WELT konnte mit einem halben Dutzend Fachleuten sprechen und Informationen aus internationalen Sicherheitskreisen auswerten. Die Recherchen zeigen: Die eigentlich strikt wissenschaftliche Klassifizierung der Ernährungslage im Kriegsgebiet ist längst zum Politikum geworden.

Professor Aron Troen von der Fakultät für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt an der Hebräischen Universität Jerusalem warnt im Gespräch mit WELT: „Der IPC-Prozess ist vereinnahmt worden und inzwischen stark politisiert. Der eigentliche Schaden trifft jene Menschen, die dringend Hilfe und Unterstützung benötigen.“

Was er meint: Die IPC, eigentlich ein international anerkannter objektiver Gradmesser für die Ernährungssicherheit, habe im Falle des Gaza-Streifens seine klar definierte wissenschaftliche Methodik aufgeweicht. Hinter vorgehaltener Hand wird ein erfahrener Ernährungsexperte deutlicher: „Der Sinn und Zweck einer solchen Organisation bestand darin, Vertrauen über politische Grenzen hinweg zu schaffen – eine objektive Grundlage zu schaffen, auf die sich alle einigen können. Wenn sie stattdessen zu einem Instrument der Interessenvertretung wird, werden genau die humanitären Ziele, die wir erreichen wollen, untergraben.“

Stein des Anstoßes ist unter anderem die Quellenlage der jüngsten IPC-Berichte. Dazu muss man wissen: Die IPC ruft eine Hungersnot aus, wenn drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sind. 20 Prozent der Haushalte müssen von extremer Nahrungsmittelknappheit betroffen sein, 30 Prozent der Kinder akut unterernährt und zwei von 10.000 Menschen, beziehungsweise im Falle von Kindern vier von 10.000 Menschen täglich an Hunger oder dem Zusammenspiel von Krankheit und Unterernährung sterben. Dazu untersuchen Hilfsmitarbeiter vor Ort Kinder und Erwachsene, machen Umfragen zur Situation in Haushalten und werten öffentlich zugängliche Daten aus.

Eine hohe Maxime dabei: Transparenz.

Doch der Bericht aus dem Juli verweist in seinen Quellenangaben wiederholt auf Dokumente, die als „intern“ bezeichnet werden. „Quelle nicht öffentlich verfügbar“, heißt es dort. Das bedeutet: Wer genauer wissen will, wie wo und wann die Daten erhoben wurden, hat keine Chance, dies zu überprüfen.

WELT hat die erwähnten Dokumente bei der IPC angefragt. Die Antwort: „In Bezug auf die ‚internen Dokumente‘, die in der im Juli veröffentlichten IPC-Warnmeldung verwendet wurden, können diese Quellen aufgrund der äußerst sensiblen Natur der Situation nicht veröffentlicht werden.“ Eine Nachfrage, ob die IPC wenigstens Auskunft über die jeweilige Stichprobengröße und den Erhebungszeitraum geben könne, beantwortet die IPC nicht konkret.

Transparenz-Schwächen und fragwürdige Erhebungen

Wer sich „IPC Alerts“, die Frühwarnungen und keine formalen Klassifikationen darstellen, aus anderen Konfliktregionen ansieht, erkennt: Die Initiative legt offenbar grundsätzlich wenig Wert darauf, ihre Ergebnisse im Detail nachvollziehbar zu machen. So weist etwa ein Dokument zum Sudan aus dem März 2024 überhaupt keine Quellenangaben auf.

Doch im Falle Gaza gibt es eine weitere Auffälligkeit. So verweist die IPC auf einen Datensatz der Organisation Global Nutrition Cluster, die im Juli den sogenannten MUAC-Test bei Kindern in Gaza durchgeführt hat. Bei diesem wird der Oberarmumfang von Kindern gemessen, um den Ernährungszustand festzustellen. Der Test ist eine anerkannte Screening-Methode, die vor allem in Krisenregionen zum Einsatz kommt, wo andere Daten – etwa das Verhältnis von Gewicht zur Körpergröße – nur mit deutlich größerem Aufwand erhoben werden können.

Das Problem: Laut der Präsentation des Global Nutrition Cluster wurden die Kinder vor allem in Krankenhäusern und medizinischen Zentren untersucht. Das jedoch scheint im Widerspruch zu den internen Richtlinien der IPC zu stehen. In einem Dokument mit dem Namen „IPC Technical Guidance Note“ heißt es: „Mit der IPC kompatibel sind ausschließlich gemeindebasierte Sentinel-Standorte; auf Daten aus Gesundheitseinrichtungen gestützte Sentinel-Standorte sind nicht erlaubt.“ Als „Sentinel-Standort“ werden die Erhebungsorte bezeichnet.

Eine Kritik geht ins Leere

Der israelische Experte Troen sagt: „Wenn in Kliniken Proben von kranken Kindern genommen und die Ergebnisse anschließend auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnet werden, führt das zu überhöhten Zahlen – und verstößt gegen das IPC-Handbuch und dessen Protokolle. Solche methodischen Schwächen machen eine realistische Lagebewertung unmöglich.“

Zuletzt war bereits an der schieren Tatsache, dass die Analysten auf den MUAC-Test zurückgreifen, Kritik aufgekommen. Das konservative US-Magazin „Washington Free Beacon“ hatte vergangene Woche berichtet, die IPC habe klammheimlich Kriterien geändert, um einfacher eine Hungersnot ausrufen zu können. So sei anders als gewöhnlich der MUAC-Tests herangezogen worden. Zudem sei die Schwelle für den Anteil der Kinder, die als unterernährt gelten müssen, damit der IPC eine Hungersnot ausruft, gesenkt worden – von 30 Prozent auf 15 Prozent.

Ein Blick in die internen Richtlinien der IPC zeigt jedoch, dass das Verhältnis von Größe zu Gewicht zwar die präferierte Methode ist, um akute Unterernährung bei Kindern zu messen. Sind solche Daten nicht vorhanden, kann aber auch auf den Oberarm-Test zurückgegriffen werden. Dann reduziere sich auch – aufgrund der abweichenden Metrik – die Schwelle des zur Ausrufung einer Hungersnot nötigen Werts von 30 Prozent auf 15 Prozent. Die IPC handelte hier demnach im Rahmen ihrer eigenen Richtlinien.

Auf Anfrage erklärt eine Sprecherin: „Die Behauptung, dass das IPC seine Protokolle geändert habe, ist völlig falsch. Für das IPC bezieht sich ‚weit verbreitete akute Unterernährung‘ auf Situationen, in denen mindestens 30 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten einen Z-Score für das Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße (WHZ) unter -2 Standardabweichungen oder Ödeme aufweisen.“ In Ermangelung solcher Daten könne eine ‚weit verbreitete akute Unterernährung‘ festgestellt werden, „wenn mindestens 15 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten einen Oberarmumfang (MUAC) unter 125 mm oder Ödeme aufweisen“.

Israelisches Außenministerium kritisiert Berichte

Was technisch klingt, ist mittlerweile zu einer ernsten diplomatischen Affäre geworden. Das israelische Außenministerium hat mehrere Analysen der IPC-Berichte veröffentlicht, in denen es auf mutmaßliche Ungereimtheiten hinweist.

Eine Person mit Kenntnis der Vorgänge verweist auf sich seit Monaten hochschaukelnde Irritationen. Schon ein IPC-Bericht aus dem Januar 2024 habe die mangelnde Neutralität der Autoren deutlich gemacht. Darin hieß es: „Die aktuellen Feindseligkeiten im Gaza-Streifen begannen mit schweren Bombardements am 7. Oktober 2023.“ Der Auslöser des Krieges, der Angriff der Hamas auf Israel, sei nicht benannt worden, ebenso wenig wie die Praxis der Hamas, Hilfsgüter, die nach Gaza geliefert werden, systematisch zu stehlen.

Das Außenministerium weist auf eine mutmaßliche Diskrepanz zwischen erhobenen Daten und den Rückschlüssen der IPC hin. Im Juni 2024 etwa hätten viele der Indikatoren eher auf eine Situation hingewiesen, die die IPC als „Phase 2“ beschreibt – eine „angespannte Situation“ – die IPC habe Gaza aber durchgehend als „Phase 4“ klassifiziert – einen „Notfall“. Dabei sei offenbar etwa die niedrige Sterblichkeitsrate ignoriert worden, andere Kriterien, wie der durch Telefonumfragen erhobene „Lebensmittelkonsumwert“, der angibt, welche Lebensmittel den Menschen zur Verfügung stehen, sei deutlich stärker gewichtet worden.

Wie kommt die IPC zu dieser Gewichtung? Eine Nachfrage dazu ließ eine Sprecherin mit Verweis auf die Arbeitsbelastung unbeantwortet. Alle Experten stünden aufgrund der Arbeit an der neuen Gaza-Analyse nicht für Medienanfragen zur Verfügung.

Andere Experten fordern härtere Bewertung

Doch es gibt auch Stimmen, die die möglicherweise freihändige Interpretation von Zahlen für richtig halten. Mehrere renommierte, viel zitierte Akademiker auf dem Gebiet der Hungersnotforschung riefen die IPC zuletzt zu einem lockeren Umgang mit den eigenen Standards auf. Das bestätigte Francesco Checci, Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine gegenüber WELT. „Tatsächlich habe ich der IPC vor einigen Tagen in einem Telefonat vorgeschlagen, dass sie vielleicht in Betracht ziehen sollten, die Definition von Hungersnot für die Situation in Gaza zu erweitern, da das IPC-System eigentlich für ganz andere Szenarien wie die Dürre in Somalia konzipiert wurde“, so Checci.

Aufgrund der extremen Unsicherheit vor Ort sei es schwierig gewesen, angemessene Studien zu Unterernährung und Sterblichkeit durchzuführen. Stattdessen habe man sich darauf beschränkt, Kinder an Hilfsgüterausgabestellen oder bestenfalls in der Gemeinde schnell auf Unterernährung zu untersuchen. „Israel hat es nicht möglich gemacht, Daten zu sammeln“, kritisiert Checci.

Auch Alex de Waal, einer der bekanntesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Hungersnöte, hat in der Vergangenheit dazu aufgerufen, eine Hungersnot auszurufen, auch wenn die offiziellen Kriterien dafür nicht erfüllt sind. „Wir sollten nicht erst die Gräber von Kindern zählen müssen, um eine Hungersnot auszurufen“, sagt er dem „Science“-Magazin. „Wir wissen, was passiert.“

Auf Anfrage von WELT kritisierte de Waal Israel erneut scharf. „Wenn Israel wirklich glaubt, dass das IPC das Ausmaß des menschlichen Leids in Gaza übertreibt, gibt es eine ganz einfache Lösung: Es sollte humanitären Helfern gestatten, die Daten auf strenge und umfassende Weise zu erheben, Zugang zu allen Menschen an allen Orten zu erhalten, und es sollte internationalen Journalisten erlauben, nach Gaza einzureisen, um gemeinsam mit palästinensischen Kollegen über die Lage zu berichten.“

Ist damit die Grenze zum Aktivismus überschritten? In Israel zumindest sorgen solche Aussagen für eine wachsende Skepsis gegenüber den beteiligten internationalen Organisationen. Zumal kurz vor der Veröffentlichung des neuen Gaza-Berichts einiges darauf hindeutet, dass sich die prekäre Lage derzeit etwas entspannt.

Zuletzt erreichen wieder mehr Hilfsgüter Gaza

Die Zufuhr von Hilfsgütern hat die Preise für Nahrungsmittel deutlich reduziert, auf unter das Niveau vom Mai, analysiert der US-Politikwissenschaftler Gabriel Epstein vom Israel Policy Forum. Das Problem sei jedoch weiterhin, dass große Teile der Hilfeleistungen nicht bei den vulnerablen Gruppen ankämen. Mehrheitlich würden Trucks mit Lebensmitteln von Zivilisten oder militanten Gruppen geplündert werden.

Epstein sagte WELT: „Wenn 90 Prozent der Hilfsgüter nie bei Verteilzentren, Bäckereien oder Küchen ankommen, sind die Ärmsten einfach ausgeschlossen. Gaza war schon vor dem Krieg ein Ort extremer Ungleichheit, jetzt ist es noch schlimmer. Hamas-Mitglieder, Clans oder wohlhabendere Familien sichern sich ab. Die Not trifft die Schwächsten.“

Aus internationalen Sicherheitskreisen erfuhr WELT, seit der Wiederaufnahme der Hilfslieferungen am 19. Mai seien insgesamt rund 9000 Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern in den Gazastreifen eingefahren, durchschnittlich rund 300 Lkw pro Tag. Die UN gibt an, dass vor Beginn des Krieges täglich rund 500 Lkw den Gaza-Streifen erreicht hätten. Laut Angaben in Sicherheitskreisen ist das jedoch eine Übertreibung. Zudem habe damals rund die Hälfte der Ladung aus Baumaterial bestanden. Laut israelischen Angaben sind derzeit rund drei Viertel der Hilfseinfuhren Lebensmittel.

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