„Ich? Damals ein 18-Jähriger, der 60 Kilo wog? Ich habe gar nichts gemacht“, sagt Rawad Al H.
Am Abend des 18. Oktober 2023 brannte die Berliner Sonnenallee. An der Ecke Reuterstraße loderten Barrikaden, Teilnehmer einer verbotenen pro-palästinensischen Versammlung warfen Böller, Kugelbomben und Steine. Reporter vor Ort hörten Rufen wie „Free Palestine“, „Allahu akbar“ und „Palästina bis zum Sieg“. Als die Polizei die Versammlung auflöste, kippte die Stimmung endgültig. Dutzende Vermummte wurden festgenommen.
Nur wenige Wochen waren damals seit dem monströsen Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober vergangen. Zu dieser Zeit eskalierten fast täglich pro-palästinensische Kundgebungen auf Berlins Straßen. Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen häuften sich, darunter ein Brandanschlag mit Molotow-Cocktails auf das jüdische Gemeindezentrum in der Brunnenstraße. „Es ist eine Schande, dass wir Antisemitismus und Hetze auf unseren Straßen erleben müssen“, kommentierte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) damals.
Nun, fast zwei Jahre später, rollt das Amtsgericht den Fall eines damals 18-Jährigen neu auf: Rawad Al H. soll in jener Oktobernacht versucht haben, eine Demonstrantin aus dem Polizeigriff zu befreien und sich bei seiner Festnahme widersetzt haben. Al H. ist in der syrischen Hauptstadt Damaskus geboren, seine Staatsangehörigkeit gibt er auf Nachfrage der Richterin mit „deutsch und ungeklärt“ an. Von Beruf sei er Automobilverkäufer. Wann Al H. nach Deutschland einreiste, wird in diesem Prozess nicht erörtert.
Die mutmaßliche Tat liegt schon beinahe zwei Jahre zurück, ein Beispiel für die mitunter sehr langsam mahlenden Mühlen der Justiz. Eine Hauptverhandlung im vergangenen Jahr scheiterte. Das Gericht lud falsche Zeugen, am Ende konnten Fristen nicht eingehalten werden – der Prozess platzte. Nun der Neustart: Verhandelt wird nach dem Jugendstrafrecht, weil der schmale Mann im Polohemd wegen seines Alters zum Tatzeitpunkt als Heranwachsender gilt. Das wird später noch eine entscheidende Rolle spielen.
Gegen 21.20 Uhr lösten die Berliner Beamten an jenem Abend die Kundgebung auf und versuchten, den Platz an der Ecke Sonnenallee/Reuterstraße zu räumen, so beschreibt es die Anklage. Die Lage war schwer zu beherrschen, das zeigen auch Videoaufnahmen. Da waren die Hunderten Demonstranten, viele von ihnen schwenkten Palästina-Flaggen und brüllten Slogans; die Menschen in den umliegenden vollen Cafés, dazu Schaulustige, Sympathisanten und aggressive Krawallmacher. Mehrere Festnahmen eskalierten und landeten später vor Gericht.
Der Angeklagte stellt seine Rolle am Mittwoch vor Gericht ganz anders dar: „Ich wollte an diesem Abend mit Freunden in einem angrenzenden Restaurant essen. Mit der Demo hatte ich überhaupt nichts zu tun.“ Er berichtet von tumultartigen, unübersichtlichen Szenen an der Sonnenallee. „Plötzlich fiel mir eine Frau genau vor die Füße. Ich hatte keine andere Wahl, ich habe sie kurz am Arm hochgezogen, mehr nicht.“
Dann seien Beamte auf ihn zugestürmt, so schildert er es. „Ich wurde von den Polizisten geschlagen, mit Fäusten traktiert und gegen ein Auto gepresst.“ Er habe sich in einem Schockzustand befunden, später sei er gegen seinen Willen von der Polizei fotografiert worden.
Die Richterin setzt nach: „Ihnen wird vorgeworfen, sich gewehrt zu haben, ist da was dran?“ Der Angeklagte erwidert: „Ich? Damals ein 18-Jähriger, der 60 Kilo wog? Ich habe gar nichts gemacht.“
Polizeizeugen schildern die Lage ganz anders.
„Blut meiner Familie wird über dich fließen“
Ein 28-jähriger Beamter schildert die unübersichtliche Situation, nachdem die Beamten die Demonstration aufgelöst hatten, so: „Es flogen Flaschen und Steine, aus den umliegenden Cafés und Restaurants solidarisierten sich die Menschen. Schwierig, noch zu unterscheiden, wer zur Demo gehörte oder wer nur Zuschauer war. Eine herausfordernde Lage.“
Die Beamten bildeten eine Kette und rückten schrittweise vor, um den Platz zu räumen. Eine Demonstrantin mit einem typisch deutschen Nachnamen, die später als Frau S. identifiziert wurde, akzeptierte das nicht. Sie versuchte mehrmals die Polizeikette zu durchbrechen und beschimpfte die Beamten derbe, Beleidigungen wie „Du Schwuchtel“ und „Du Hurensohn“ sollen gefallen sein.
„Wir haben sie dann festgesetzt. Beim Abtransport trat sie gegen das Schienbein“, sagt der Polizist vor Gericht. „Hingefallen“ sei sie nicht. Vielmehr hätten andere versucht, sie zurück ins Demogeschehen zu ziehen – ein klarer Widerspruch zur Darstellung des Angeklagten.
Wie also war es tatsächlich? Videomaterial des Einsatzes sichtet das Gericht nicht. Es ist angewiesen auf Zeugen, die sich erfahrungsgemäß nur selten treffsicher erinnern. Vor allem, wenn die Tat zwei Jahre her ist.
Eine junge Polizeibeamtin, die als Nächstes gehört wird, winkt schon zu Beginn ihrer Aussage ab. Sie habe viele Einsätze an dieser Kreuzung der Berliner Sonnenallee absolviert, die Eindrücke würden verschwimmen. „Ich kann mich an den Angeklagten überhaupt nicht erinnern.“ An Frau S., die aggressive Demonstrantin, hingegen schon.
Der Staatsanwalt versucht der Zeugin auf die Sprünge zu helfen. „Laut Strafanzeige soll die Frau Sie mit den Worten beschimpft haben: ‚Das Blut meiner Familie wird auch über dich fließen.‘ Klingelt da was, wird die Situation wieder klarer?“ Ja, sagt die Zeugin, sie sei einiges an Beschimpfungen und Beleidigungen bei diesen Demonstrationen gewohnt, aber das sei schon speziell gewesen. „Ich erinnere mich, dass die Dame sehr anstrengend war.“ Nur zum Prozess heute gegen Rawad Al H. kann sie wenig beitragen.
Das Gericht bespricht sich daraufhin hinter verschlossener Tür mit Anklage und Verteidigung. Zwei weitere Augenzeugen sind im Urlaub und nicht erschienen, ein zeitnaher Termin für einen weiteren Prozesstag scheiterte an den vollen Terminkalendern der Beteiligten. Wieder droht eine gerissene Frist. So verständigen sich die Parteien auf ein für Prozessbeobachter überraschenden Ergebnis: Das Verfahren gegen den Angeklagten wird nach Paragraf 47, Absatz 1, Satz 2 Jugendgerichtsgesetz eingestellt.
Die Tat liege nun schon sehr lange zurück, der Angeklagte sei nicht vorbelastet, und eine „Schuldfeststellung“ werde sich auch mit Fortsetzungsterminen schwierig gestalten, sagt die Richterin. Im Jugendstrafrecht geht es weniger um Strafe sowie Vergeltung und Abschreckung wie im Erwachsenenstrafrecht, sondern um den „erzieherischen Charakter“ einer Maßnahme, die Entwicklung des Jugendlichen zu einem straffreien Leben. „Schon die beiden Hauptverhandlungen haben diese erzieherische Funktion erfüllt“, so die Richterin.
So endet ein Verfahren, das mit Barrikaden, Parolen und Gewalt begann – und nun in einem nüchternen Gerichtssaal versandet.
Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik. Im September erscheint im Verlag C.H. Beck sein Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“, das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat.
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