Hätte die Tat verhindert werden können? Amokfahrer sollte schon 2013 in die Psychiatrie
Es ist nur ein Satz in einem dreiseitigen Dokument. Doch der hat es in sich. Das Rechtsmedizinische Institut der Universität Rostock hat die „sofortige Einweisung“ von Taleb al-Abdulmohsen in eine psychiatrische Klinik empfohlen. Das steht in einem Schreiben der Kriminalpolizeiinspektion Rostock 23. Mai 2013.
Al-Abdulmohsen ist jener Psychiater aus Saudi-Arabien, der am 20. Dezember vergangenen Jahres mit einem gemieteten BMW X3 durch den Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast war und sechs Menschen getötet sowie mindestens 333 verletzt hatte. Hätte die Tat womöglich verhindert werden können?
Das Schreiben der Polizei Rostock war an den Fachdienst Gesundheit des Landkreises Vorpommern-Rügen gerichtet. Al-Abdulmohsen hatte von 2011 bis 2016 in Stralsund gewohnt und 2014 seine Facharztausbildung zum Psychiater abgeschlossen. Zuvor war er vom Amtsgericht Rostock zu einer Geldstrafe von 900 Euro wegen Störung des öffentlichen Friedens und der Androhung von Straftaten verurteilt worden.
Taleb al-Abdulmohsen hatte Mitarbeitern der Ärztekammer von Mecklenburg-Vorpommern wegen eines Streits über seine Zulassung mit einer Handlung gedroht, die „international Beachtung finden wird“. Dabei verwies er auf den Anschlag in Boston im April 2013. Damals waren durch in Rucksäcken versteckte Sprengsätze an der Zielgeraden des Marathons drei Menschen getötet und 264 verletzt worden.
In dem Schreiben der Kriminalpolizeiinspektion heißt es, dass bei der Durchsuchung seiner Wohnung Anabolika, Cortison und das starke Schmerzmittel „Tramadol“ aus der Gruppe der Opioide gefunden worden. Zudem habe der Saudi gegenüber einem Mitarbeiter des Landesprüfungsamtes für Heilberufe die Einnahme von Psychopharmaka eingeräumt, der bei al-Abdulmohsen den Verdacht auf eine Psychose diagnostizierte. Öffentlich bekannt war bisher lediglich, dass die Polizei den Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises Vorpommer-Rügen gebeten hatte, aktiv zu werden.
Obwohl es Alarmzeichen gab, wurde der Mann nicht aus dem Verkehr gezogen. Warum nicht? Die Verantwortlichen mauern. Eine Sprecherin des Landkreises Rügen-Vorpommern sagte auf Anfrage: „Die im Rahmen der Tätigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes gewonnenen Erkenntnisse unterliegen der Schweigepflicht. Das betrifft auch Informationen zu medikamentöser Behandlung, psychiatrischer Diagnostik oder psychischen Einschätzungen.“ Aus Gründen des Persönlichkeits- und Datenschutzes würden keine personenbezogenen oder gesundheitsbezogenen Daten an die Presse weitergegeben.
Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern teilte mit, dass aufgrund des Zeitablaufes keine Akten in den zentralen Systemen der Polizei vorliegen würden. Detailliertere Informationen seien nicht mehr verfügbar.
Fraglich ist, ob dieser Vorgang im bevorstehenden Prozess gegen den Attentäter zur Sprache kommen wird. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, die das Verfahren gegen al-Abdulmohsen wegen des Verdachts des Mordes in sechs Fällen und des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in mehr als 300 Fällen führt, hat ihre Ermittlungen weitgehend abgeschlossen.
Demnächst wird sie vor dem Landgericht Magdeburg Anklage gegen den Amokfahrer erheben. Um die Verhandlung mit den vielen Zeugen, Nebenklägern und Journalisten durchführen zu können, wird derzeit auf einem landeseigenen Grundstück im Osten Magdeburgs eine 5000 Quadratmeter große Halle als provisorischer Gerichtssaal errichtet. Diese soll bis zu 700 Personen Platz bieten und drei bis fünf Millionen Euro kosten.
Sachsen-Anhalts Justizministerin Franziska Weidinger (CDU) verteidigt die Ausgaben: „In einem Rechtsstaat ist es Aufgabe der Justiz, auf Grundlage der Strafprozessordnung ein ordnungsgemäßes und rechtsstaatliches Strafverfahren zu führen – insbesondere unter Berücksichtigung der Rechte der Opfer, der Sicherheit aller Beteiligten sowie der erforderlichen infrastrukturellen Voraussetzungen.“ Das gelte für alle Taten und für alle Täter.
Um die Zahl der Nebenkläger-Anwälte zu beschränken, hat das Amtsgericht Naumburg eine sogenannte Pool-Lösung mit nur zwei Juristen erlassen. Dagegen regt sich Widerstand. Der frühere Innenminister Holger Stahlknecht (CDU), der als Rechtsanwalt mehrere Opfer des Anschlags vertritt, sagte: „Aus Sicht der Opfer ist es schwer nachvollziehbar, dass Ihnen die Anwälte entzogen werden sollen, in die sie insbesondere in schwierigen Zeiten hohes Vertrauen gesetzt und auch gewonnen haben.“ Er halte dies für ein höchst unsensibles Vorgehen.
Wir sind das WELT-Investigativteam: Sie haben Hinweise für uns? Dann melden Sie sich gerne, auch vertraulich – per E-Mail oder über den verschlüsselten Messenger Threema (X4YK57TU).
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke