Wer in Deutschland ungewollt schwanger ist und einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt, fühlt sich mehrheitlich von der Gesellschaft stigmatisiert. Zu diesem Ergebnis kommt die vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Studie „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung“ (Elsa).

Mehr als 83 Prozent der Frauen mit durchgeführtem Schwangerschaftsabbruch berichten demnach von einer empfundenen Stigmatisierung, die sich laut Studie im „Empfinden von Scham-, Schuldgefühlen sowie Selbstvorwürfen“ äußern kann. „Beim Zugang zu medizinischer Versorgung stoßen Frauen auf Barrieren, erleben Zeitdruck und Schwierigkeiten bei der Organisation des Schwangerschaftsabbruchs“, heißt es. Frauen, die ungewollt schwanger werden, befänden sich zudem häufig in schwierigen Lebenslagen.

In Süd- und Westdeutschland sei die Fahrzeit zu entsprechenden medizinischen Angeboten oft lang. In Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und vor allem Bayern sei die Abdeckung mit Ärzten, die Abbrüche vornehmen, stellenweise gering, in Nord- und Ostdeutschland wiederum besser. Grundlage der Untersuchung bildeten eine repräsentative Online-Befragung von 4589 Frauen mit mindestens einem Kind unter sechs Jahren sowie qualitative Interviews. Durchgeführt wurde sie von Gesundheits- und Sozialwissenschaftlern sowie Psychologen von unter anderem der Hochschule Fulda, der Freien Universität Berlin und der Universität Ulm.

Schwangerschaftsabbrüche sind verboten, bleiben unter gewissen Bedingungen aber straffrei. Das Strafgesetzbuch sieht in Paragraf 218 eine Geld- oder Haftstrafe von bis zu drei Jahren vor. Straflos bleibt der Abbruch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche und nach Beratung.

Die empfundene Stigmatisierung habe handfeste Folgen, so die Studie: Sie führe zu einer „Einschränkung des Wohlbefindens und Zugangsbarrieren zum Schwangerschaftsabbruch“, heißt es. Die Forscher leiten daraus eine deutliche politische Forderung ab: Durch eine „Liberalisierung und Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs“ müsse das gesellschaftliche Klima so verändert werden, „dass der Schwangerschaftsabbruch als Teil der Lebensrealität respektiert und wahrgenommen wird“.

In der zurückliegenden Legislaturperiode schloss sich eine fraktionsübergreifende Gruppe von mehr als 320 Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen, FDP und Linker zusammen und forderte eine Streichung aus dem Strafgesetzbuch. Schwangerschaftsabbrüche sollten bis zur zwölften Woche legal sein, Regeln künftig im Schwangerschaftskonfliktgesetz festgeschrieben werden. Der Antrag schaffte es nach dem Bruch der Ampel-Koalition nicht mehr zur Abstimmung im Bundestag.

Die Bundesregierung hat sich auf eine Verbesserung der Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen geeinigt. „Wir wollen Frauen, die ungewollt schwanger werden, in dieser sensiblen Lage umfassend unterstützen, um das ungeborene Leben bestmöglich zu schützen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Für Frauen in Konfliktsituationen solle der Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglicht werden; die medizinische Weiterbildung solle gestärkt werden. „Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus“, heißt es in der schwarz-roten Vereinbarung.

Das Bundesgesundheitsministerium unter Nina Warken (CDU) teilt auf WELT-Anfrage mit, derzeit an einer Umsetzung zu arbeiten. Zum einen werde geprüft, ob die Einkommensgrenze, wonach Anspruch auf Leistungen für einen Abbruch gegeben sind, angehoben werden könnte. Derzeit liegt sie bei einem Einkommen von 1001 Euro im Monat. Zudem werde geprüft, ob der Kreis der Bedürftigen, die ebenfalls einen Leistungsanspruch hätten, um Sozialhilfe-, Bürgergeld- oder Bafög-Empfänger ergänzt werden könnte.

Welche Konsequenzen ziehen die Bundestagsfraktionen allerdings aus der Studienergebnissen – insbesondere der Empfehlung zur Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch?

SPD warnt vor „Kriminalisierung“

Die Union sieht die Erkenntnisse zu Stigmatisierungsgefühlen als Bestätigung des derzeitigen Konzepts der Pflichtberatung. Diese biete Betroffenen einen „sicheren, neutralen Raum, um über genau diese Ängste und Gefühle zu sprechen – und vermittelt zugleich alle Informationen, die für eine informierte, selbstbestimmte Entscheidung nötig sind“, so Anja Weisgerber (CSU), stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion. Je informierter Frauen seien, desto geringer die persönlichen Zweifel und das Stigmatisierungsgefühl, so Weisgerber. Man werde die Ergebnisse der Studie prüfen.

An ihrer Grundsatzposition hält die Union allerdings fest. „Für uns ist klar, dass wir die bestehende Regelung zum Schutz des ungeborenen Lebens keinesfalls aufweichen werden“, so Weisgerber zu WELT. Ein „Aufbrechen des gesellschaftspolitischen Kompromisses“ des Paragrafen 218 könne zu einer „neuen, polarisierten Debatte führen“ und Frauen im Schwangerschaftskonflikt belasten. „Betroffene Frauen benötigen in dieser sensiblen Situation bestmögliche Beratung und Unterstützung. Dazu gehört neben dem Zugang zu Beratungsangeboten eine sichere und wohnortnahe medizinische Versorgung sowie für Frauen in einer finanziellen Notlage, die Kostenübernahme als steuerfinanzierte Sozialleistung“, sagt die Christsoziale.

Das Bundesgesundheitsministerium sieht ebenfalls keinen Handlungsbedarf. „Da bei der politischen und gesellschaftlichen Debatte über den Schwangerschaftsabbruch tief greifende ethische Fragestellungen angesprochen sind, die als Gewissensentscheidung von den einzelnen Abgeordneten und somit aus der Mitte des Deutschen Bundestages zu beantworten sind, nimmt die Bundesregierung inhaltlich nicht zu der Empfehlung der Elsa-Studie zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Stellung“, so ein Sprecher. „Auch der Koalitionsvertrag enthält insoweit keine Festlegungen.“

Beim Koalitionspartner kommt man zu einem anderen Schluss. „Die deutliche Mehrheit der Frauen, die sich für eine Beendigung der Schwangerschaft entscheidet, hat bereits Kinder. Trotzdem halten sich hartnäckig Erzählungen darüber, dass sich Frauen leichtfertig für eine Beendigung entscheiden würden“, sagt Carmen Wegge, Sprecherin für Recht und Verbraucherschutz der SPD-Bundestagsfraktion. Durch die Regelung im Strafgesetzbuch werde der Schwangerschaftsabbruch als etwas „grundlegend Falsches“ dargestellt.

„Die Kriminalisierung prägt das gesellschaftliche Klima, erschwert den Zugang zu Informationen und verschlechtert die Versorgungslage, insbesondere in Süd- und Westdeutschland“, sagt Wegge WELT. Alle öffentlichen Krankenhäuser müssten zur Durchführung von Abbrüchen verpflichtet werden. Schwangerschaftsabbrüche sollten aus dem Strafrecht herausgelöst werden, bis zur zwölften Woche rechtmäßig und straffrei sein. Eine Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen solle ermöglicht werden. „Der Schwangerschaftsabbruch ist der jährlich am häufigsten durchgeführte medizinische Eingriff bei Frauen. Er ist bereits Teil der Lebensrealität vieler Frauen, und wir müssen die Stigmatisierung endlich beenden.“

Die Opposition ist zweigeteilt. Die AfD lehnt eine Abschaffung des Paragrafen 218 ab. Das Bundesverfassungsgericht habe 1993 den Schutz ungeborenen Lebens betont, sagt Beatrix von Storch, stellvertretende Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion. Es gebe „keine Kategorie von Menschen ohne Menschenwürde“. „Sonst könnte bald auch anderen Gruppen von Menschen die Menschenwürde abgesprochen werden, etwa Komapatienten, Alten, Kranken oder Behinderten“, sagt von Storch.

Abtreibung sei zwar in einem „großen gesellschaftlichen Kompromiss“ straffrei gestellt, Mütter sollten aber nicht davon entbunden werden, „sich mit ihrem Gewissen auseinandersetzen zu müssen“. Schwangerschaftsabbrüche dürften nicht als normal angesehen werden, so die AfD-Politikerin. „Es geht um ein Menschenleben. Das darf nie vergessen werden.“ Es gebe eine „moralische Verantwortung für das ungeborene Kind“.

Die Grünen halten die Studie hingegen für „wegweisend“ – und sehen sie als Handlungsauftrag. Schwangerschaftsabbrüche seien heute noch eines der „größten Tabus, über das selbst im engsten Freundeskreis nicht gesprochen wird“, sagt Ulle Schauws, Sprecherin für Frauenpolitik der Grünen-Bundestagsfraktion. „Denn ein Abbruch steht immer noch im Strafgesetzbuch und ist verboten, auch wenn es einen Weg gibt, straffrei zu bleiben.“ Diese Rechtslage befördere Stigmatisierung. „Und die Moral der katholischen Kirche trägt ebenso dazu bei.“

Eine Verbesserung der Versorgungslage könne es erst durch eine Entkriminalisierung geben, so Schauws. Erst dann könne es genügend Ärztinnen und Ärzte geben, die eine umfassende Ausbildung als Bestandteil der gynäkologischen Weiterbildung erhielten. „Ich kenne keine andere Gesundheitsleistung, die rechtswidrig ist“, kritisiert Schauws. Dies führe auch zu Stigmatisierung von Ärzten, etwa durch Anfeindungen durch Abtreibungsgegner. „Wir sollten als Gesellschaft nie hinnehmen, dass Menschen Angst haben müssen, ihre Arbeit auszuführen.“

Auch die Linke bekräftigt ihre Forderung nach einer Reform. „Wie viele Nachweise braucht die Bundesregierung noch, um Frauen nicht weiter zu entmündigen?“, fragt Kathrin Gebel, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Der Paragraf 218 müsse gestrichen werden, denn er bevormunde ungewollt Schwangere ebenso wie Ärztinnen und Ärzte und wirke sich negativ auf die Versorgungslage aus. „Schwangerschaftsabbrüche sollten ein normaler Teil der Gesundheitsversorgung sein“, so Gebel. „Einzig die Union und rechtsextreme Kräfte stellen sich dagegen.“

Schwangerschaftsabbrüche müssten eine normale Leistung der Krankenkasse werden, damit sämtliche Kosten übernommen werden könnten. Die Kirche habe zu viel Macht, so die Linke-Politikerin. „Obwohl kirchliche Krankenhäuser bis zu 100 Prozent aus öffentlichen Geldern finanziert werden, drücken sie sich aus ideologischen Gründen vor ihrer Verantwortung als Gesundheitsdienstleisterin und lehnen auch medizinisch notwendige Abbrüche ab“, sagt Gebel. „Das Kirchenrecht darf keine OP-Pläne diktieren – im Krankenhaus gilt das Grundgesetz und nicht die Bibel.“

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.

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