Die Armee von Wladimir Putin durchbricht ukrainische Linien bei Pokrovsk. Kiews Eliteeinheiten sollen den Vormarsch stoppen, sonst gerät die ganze Donbasfront in Gefahr.

Vor dem Alaskagipfel unternehmen die russischen Invasionstruppen alles, um möglichst große Fortschritte zu erzielen. Das Kalkül von Präsident Wladimir Putin: Wenn seine Armee ihren Vormarsch weiter beschleunigt, wird sich bei Donald Trump der ohnehin bestehende Eindruck verstärken, dass Kiew diesen Krieg nicht gewinnen kann und jeder weitere Monat ohne Waffenstillstand die Position der Ukraine weiter schwächt.

Donbas ist Putins wichtigstes Ziel

Die zentrale Region dabei ist der Donbas. Im Osten des Landes halten die ukrainischen Streitkräfte weiterhin Städte in der Region Donezk. Eine Zone, aus der sie sich – geht es nach Putin – zurückziehen müssen, wenn er einem Waffenstillstand zustimmen soll. Dort ist die Lage seit Monaten generell kritisch. An einigen Stellen gelang es den Ukrainern, die Russen zu stoppen, mit dem Ergebnis, dass diese an anderen Orten die Verteidiger zurückdrängten.

Bisher verliefen die Kämpfe im Zeitlupentempo. Zäh wurde um einzelne Baumreihen gerungen, fiel eine Ortschaft, gelang es den Russen in der Regel nicht, darüber hinaus vorzurücken, da die nächste Siedlung erneut verteidigt wurde.

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Doch seit einigen Tagen sind die Kreml-Truppen nördlich von Proskop beinahe 20 Kilometer tief in die ukrainischen Stellungen eingedrungen. Bei dem Ort Novovodyane sollen sie die T-O514 überschritten haben. Damit wäre diese wichtige Verbindungsstraße zwischen Proskop und Kramatorsk physisch gekappt.

Der russische Einbruch nördlich von Proskop konzentriert sich auf die Hügelkette westlich von Novovodyane, die eine erhöhte Position bietet und die Kontrolle über die Verbindungsstraße T-O514 erleichtert. Von dort aus könnten die Russen versuchen, ihre Stellungen in Richtung der Stadt Kramatorsk auszudehnen. Gleichzeitig hätten sie die nächste Verteidigungslinie der Ukrainer durchstoßen.

Neben diesem Vorstoß nach Norden sollen ihre Soldaten bereits den weiter östlich gelegenen Ort Dobropillja erreicht haben. Zu den Kämpfen gibt es kaum Videos mit unbezweifelbaren Geodaten, die Berichte basieren allein auf Nachrichten von der Front – allerdings häufig von ukrainischer Seite.

Taktik des Einsickerns

Bei ihrem Vormarsch zeigt sich, wie die Russen ihre Taktik seit Beginn des Krieges verändert haben. Der Angriff wurde nicht von starken gepanzerten Kräften durchgeführt, sondern von kleinen Kommandogruppen. Die einzelne Sturmgruppe teilt sich weiter auf – auf etwa zwei bis drei Mann.

Die russischen Kommandogruppen nutzen nicht nur Motorräder, sondern auch leichte Geländefahrzeuge, um Nachschub wie Munition und Treibstoff schnell in die durchbrochenen Stellungen zu bringen. Dies ermöglicht es ihnen, isolierte Positionen im ukrainischen Hinterland länger zu halten.

So durchdringen sie häufig mit Motorrädern die nur dünn besetzten ukrainischen Linien. Ihr Ziel ist es, möglichst unbemerkt hindurchzuschlüpfen und sich dann im Hinterland festzusetzen.

Bald russisch? Das denken die Menschen in den umkämpften Gebieten. © n-tv
Bald russisch? Das denken die Menschen in den umkämpften Gebieten © n-tv.de

Erster Vormarsch ohne nennenswerten Widerstand

Häufig tauchen Videos auf, in denen diese Gruppen entdeckt und anschließend von Drohnen angegriffen werden. So entsteht der Eindruck von selbstmörderischen Missionen – doch von den erfolgreichen Infiltrationen existieren keine Clips, und diese häufen sich in letzter Zeit.

Ein Grund dürfte sein, dass die Russen Jagd auf die Drohnenoperateure der Ukrainer machen. Systematisch zerstören russische Drohnen und Gleitbomben mögliche Verstecke hinter der Front. Zugleich bewegen sich die russischen Soldaten unter dem Schutz eigener Drohnen. Das schnelle Tempo des jetzigen Vormarsches deutet darauf hin, dass sie zumindest teilweise auf keinen Widerstand stoßen.

Die Vermutung liegt nahe, dass die wenigen Ukrainer in ihren Widerstandsnestern den Kampf vermeiden. Einen Kampf, bei dem die russischen Kommandogruppen zwar aufgehalten werden könnten, die Ukrainer aber Gefahr liefen, dass ihre Stellungen von Drohnen attackiert oder von Gleitbomben komplett vernichtet würden.

Azov-Korps soll Russen aufhalten

Kiew hat nun seine Elitetruppen in die Region geschickt. Nach eigenen Angaben sind bereits Teile des Azov-Korps im Raum der Verbindungsstraße T-O514 angekommen. Neben dem Azov-Korps hat die Ukraine weitere Elitekämpfer wie die 3. Sturmbrigade in das Gebiet verlegt. Doch auch diese kampfwilligen Einheiten sind nicht ausgeruht und voll aufgefüllt, sondern leiden unter den vorhergehenden Kämpfen. Sie werden zudem an anderen Stellen aus der Front gezogen.

Kiew ist es nicht gelungen, den Einbruch der kleinen russischen Kommandogruppen sofort mit Gegenangriffen regionaler Kräfte zu bereinigen. Damit ist die günstigste Zeit für einen Gegenstoß verstrichen. Inzwischen haben die Russen reguläre Truppen in die Einbruchszipfel geführt. Sie haben sich eingegraben, die ukrainischen Befestigungen übernommen und vor allem ihre eigenen Drohneneinheiten eingerichtet.

Ein Gegenangriff müsste sich nun gegen einen gewappneten Feind richten. Vermutlich werden die herangeführten Kräfte wenig mehr bewirken können, als den russischen Einbruch nach Norden hin abzuriegeln. Dabei werden sie weiterhin mit dem Problem kämpfen müssen, dass russische Kommandogruppen in ihrem Rücken auftauchen könnten.

Östlich des Einbruchs halten die Ukrainer die Dörfer um Pankiwka. Dort haben die ukrainischen Streitkräfte verstärkte Schützengräben und Artilleriepositionen eingerichtet, um mögliche russische Angriffe von Osten abzuwehren.

Diese Stellungen dienen auch als Ausgangspunkt für begrenzte Gegenangriffe, um die russischen Flanken unter Druck zu setzen. Von dort aus könnten sie versuchen, den russischen Zipfel abzuschneiden. Umgekehrt: Wenn die Russen ihren Einbruch weiter vergrößern wollen, müssen sie die Wurzel des Zipfels verbreitern und die Ukrainer aus diesen Orten vertreiben.

Russen müssen gestoppt werden

Strategisch ist die Situation außerordentlich bedrohlich. Um jeden Preis muss Kiew verhindern, dass der Gegner weiter nach Norden vordringt. Könnten die Russen im Land hinter der Front ungehindert vorankommen, würde die gesamte Donbasfront langfristig in Gefahr geraten, abgeschnitten zu werden.

Der Zwang, die Russen dort aufzuhalten, vergrößert Moskaus Möglichkeiten. Wenn Putins Truppen in der aussichtsreichsten Richtung gestoppt werden, könnten sie ihren Einbruch in westliche Richtung ausdehnen und womöglich von einem anderen Frontvorsprung aus ebenfalls angreifen. Die begrenzten Kräfte Kiews müssten dann weiter aufgeteilt werden.

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Keine Rückkehr des Blitzkrieges

Ein echter Blitzkrieg ist nicht zu erwarten. Die Russen werden nicht in der Lage sein, in wenigen Wochen mit einem großen Sichelschnitt die Kette der befestigten Städte von Kostjantyniwka über Kramatorsk bis nach Slowjansk vom Hinterland abzuschneiden. Dazu fehlen ihnen die Truppen, und solch kühne Manöver eines Bewegungskrieges sind unter den Bedingungen der Kämpfe in der Ukraine kaum denkbar. Sie werden aber versuchen, Positionen zu erkämpfen, von denen aus dieser Schnitt im nächsten Jahr möglich wird.

Die nächsten Tage entscheiden über das weitere Schicksal der freien Ukraine. Im Idealfall gelingt es, die russische Frontnase abzuschneiden und die Russen dort einzukesseln. Das wäre eine schwere Niederlage der Invasoren. Doch dieser Ausgang ist wenig wahrscheinlich.

Ein Sieg Putins sähe so aus: Kiew gelingt es nicht, den russischen Einbruch dauerhaft einzudämmen. Die Ukrainer werden bei diesem Versuch geschlagen, und danach rücken die Russen weiter vor. Die wahrscheinlichste Variante dürfte sein, dass Kiew die unmittelbare Gefahr für die gesamte Donbasfront bannen kann, es den Russen aber gelingt, ihren Einbruch weiter zu verbreitern und kleinere Kessel entlang der Front im Osten zu schließen.

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