Die Grünen unter Felix Banaszak haben nachgedacht und wollen keine elitäre West-Partei mehr sein. Deshalb soll es jetzt noch mehr Ost-Besuchsprogramme geben. Oje.

Es ist ein paar Jahre her, in Thüringen stand mal wieder eine dramatische Landtagswahl an, als der damalige Vorsitzende der Grünen, er hieß Robert Habeck, ein hoffnungsfrohes Instagram-Video publizierte. Er streichelte darin keine Pferde, sondern kuschelte verbal mit den Ostdeutschen. Und er versprach: "Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land." 

Das war zweifellos sehr großmütig von Habeck. Noch bevor ich meine Schulappell-Haltung annehmen und "Freundschaft!" rufen konnte, rief der in Erfurt gebürtige SPD-Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider rhetorisch durchs Netz: "In welchem Gefängnis habe ich die letzten Jahre gelebt?" 

© Sascha Fromm

Ganz Naher Osten

stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst

Nun ließe sich antworten, dass der heutige Umweltminister schon damals längst nicht mehr in Erfurt, sondern nahe seinem Arbeitsort Berlin wohnte. Aber wir sind in dieser Kolumne traditionell nicht kleinlich. 

Zumal, es geht ja um die Grünen, die gar hurtig das Video löschten, weil Habeck, na klar, "falsch verstanden" worden sei. Selbstverständlich und überhaupt habe er dem überaus geschätzten Thüringen und dessen liebreizenden Bewohnern nichts absprechen wollen. Niemals! Er habe gemeint, dass das Land, in dem die Grünen zu dieser Zeit sogar ein bisschen mitregierten, "einfach noch grüner und ökologischer werden" solle.

Um berechtigten Anmerkungen vorzubeugen: Natürlich ist dieser pädagogische Paternalismus, der definiert, was als demokratisch, ökologisch und gut gelten darf – und vor allem: was nicht – ein universal grünes Phänomen. Gleichwohl ist es in Bezug auf Ostdeutschland besonders ausgeprägt.

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Das ließ sich zuletzt wieder sehr schön anhand des Nachnachfolgers von Habeck betrachten. Felix Banaszak, so heißt er, war tapfer unterwegs in jenen wilden Landstrichen, die vor knapp 35 Jahren dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten. In zwei davon – Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt – werden im nächsten Jahr die Landtage gewählt. Die Grünen stehen in den dortigen Umfragen irgendwo zwischen drei und fünf Prozent, mit sinkender Tendenz.

Felix Banaszak ist ostsensibilisiert

Der Parteichef war sich während seiner Ostreise offenbar der Gefahr bewusst, wie ein politischer Safari-Reisender zu wirken. Das grüne Muster ist allzu sehr bekannt: einmal quer durchs Reservat, dabei ein paar Solar- und Antifa- und Bioagrar-Projekte mitnehmen, und dann schnell zurück in die heimelige Hauptstadt. 

Deshalb mühte sich Banaszak um besuchstechnische Diversität. Neben Visiten des soziokulturellen Zentrums in Döbeln und des CSD in Neubrandenburg lud er die eingeborene Bevölkerung zum Bier in Eisenach oder in Halle an der Saale. Und er besichtigte sogar am Rennsteig ein kleines Glasunternehmen, das unter hohen Strompreisen leidet.  

Im sächsischen Freiberg begegnete der Vorsitzende laut lärmenden Montagsdemonstranten, die ihn zu diesem, vom aufmerksamen "taz"-Reporter dokumentierten Ausspruch anregten: "Ah, das gibt es hier auch noch!" 

Und zack: wieder was gelernt. 

Tatsächlich geben sich die Grünen unter Banaszak ostsensibilisierter denn je. "Haben wir den Osten aufgegeben – oder der Osten uns?", fragte er in einem jüngst veröffentlichten Strategiepapier. Die trotzige Antwort: "Weder noch." 

Kolumne Ganz Naher Osten Was der Kanzler endlich vom Osten lernen muss

Es folgten allerlei Aufforderungen an sich selbst: mehr Präsenz, Repräsentanz und "Politik auf Augenhöhe", und ja, sogar ein bisschen Frieden. Die Partei sollte "der Versuchung widerstehen, zu staatsgläubig in die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen einzugreifen".

Das klang alles selbstreflektiert und demütig – aber auch etwas hilflos. So lautete einer der notorisch verquasten Sätze: "Abgeordnete und Vorstandsmitglieder sollen zukünftig gezielt auf ostdeutsche Landes- und Kreisverbände zugehen und niedrigschwellige Formate zur Präsenzsteigerung anbieten." Dafür soll es einen Vorstandsbeirat "Bündnisgrüner Osten" und ein "Mentoringprogramm Ost" geben.

Dezente Skepsis in der Partei

Der zentrale Neuerervorschlag der Bundesspitze ist also ein erweitertes Studiosus-Programm für Safari-Grüne. Selbst in der Partei ist dezente Skepsis zu spüren. Die grüne Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta aus Leipzig schrieb: "Mehr Wessis auf Besuch im Osten sind vielleicht nicht das beste Erfolgsrezept."

So ist das. Dass die Grünen in Ostdeutschland stellenweise nicht vorhanden sind, hat Gründe, die sich nicht wegbesuchen lassen. Sie sind strukturell: viel Land, wenig Stadt, kaum Bildungsbürgertum, geringerer Wohlstand. Und sie sind historisch. Denn die BRD-Grünen hatten 1990 keine DDR-Blockpartei mit großer Mitgliederdatei, allerlei Geschäftsstellen und vielen Opportunisten geschluckt, sondern die bereits marginalisierten, aber dafür notorisch sperrigen Bürgerrechtler von Bündnis 90. 

Im Ergebnis befanden sie sich im Osten zumeist in der außerparlamentarischen Opposition, was dazu führte, dass sie in der Gesamtpartei personell und inhaltlich unterrepräsentiert waren. Die Grünen wurden noch westzentrierter als die meisten anderen Parteien. Und sie blieben es.

Zurück noch mal in mein demokratisches Thüringen. Dort trat voriges Jahr Madeleine Henfling für die Grünen zur Landtagswahl an. Die Partei gehörte sogar der Landesregierung an. Doch die eigene Umweltministerin war bereits unter Absingen falscher Lieder in die Wirtschaft geflohen. Danach hatte der Landeschef den Justizminister weggemobbt, um für sich selbst Platz im Kabinett zu schaffen.

Es gab also einen gewissen Eigenanteil an der nachfolgenden Wahlniederlage. Dennoch hatte der Absturz auf 3,2 Prozent wohl vor allem zu tun mit dem Bundestrend, mit der Ampel, dem Heizungsgesetz und der, sagen wir es mal so: allgemeinen Unbeliebtheit der Grünen. 

Henfling dachte nach dem Rauswurf aus dem Landtag ein paar Monate nach und veröffentlichte dann gemeinsam mit anderen ostdeutschen Politikerinnen und Politikern ein 23-seitiges Papier, in dem ein "radikaler Kurswechsel" gefordert wird. Und dieser Kurswechsel bedeute: "mehr soziale Gerechtigkeit, mehr wirtschaftliche Perspektiven, mehr Nähe zu den Menschen". Und: "weniger moralische Überlegenheit, weniger Arroganz, weniger Selbstbeschäftigung". 

Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Außer: Bitte in ganz Deutschland!

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