Thomas Preis, 65, ist seit Januar Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, kurz ABDA. Seit 2019 ist er Inhaber der Pauli-Apotheke in Köln.

WELT: Herr Preis, provokant gefragt: Braucht es heutzutage überhaupt noch Vor-Ort-Apotheken?

Thomas Preis: Arzneimittel sind Waren besonderer Art, die eine heilende Wirkung haben, aber gleichzeitig auch Risiken und Nebenwirkungen aufweisen. Deshalb brauchen wir unbedingt eine fachkundige, persönliche Beratung vor Ort. Das ist weltweit so, und Deutschland braucht diesen Standard auch.

WELT: In Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner 20 Apotheken. Der EU-Durchschnitt liegt bei 31 Apotheken. In den skandinavischen Ländern, die häufig als Positivbeispiel bei der Gesundheitsversorgung genannt werden, sind es deutlich weniger. Dänemark bildet mit neun Apotheken je 100.000 Einwohner das Schlusslicht in der EU. Läuft es dort so viel schlechter?

Preis: Die Bevölkerungsverteilung in den skandinavischen Ländern ist eine andere. Das sind Flächenländer, in denen es weniger großstädtische Strukturen als in Deutschland gibt. Deshalb ist das schwer miteinander zu vergleichen. Unser Ziel sollte es aber sein, eine flächendeckende Versorgung auch in ländlichen Bereichen zu erhalten, um die Lebens- und Gesundheitsqualität für Bürger auch dort hochzuhalten. Es gibt dort jetzt schon eine sehr geringe Haus- und Facharztdichte.

Wie wichtig Daseinsvorsorge ist, hat die Corona-Pandemie gezeigt. Apotheken haben in dieser Zeit einen ausgesprochen wichtigen Beitrag bei der Arzneimittelversorgung geleistet, beispielsweise mit selbst hergestellten Desinfektionsmitteln, der Impfstoff-Abgabe und dem Aufbau einer niedrigschwelligen Test-Infrastruktur. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Auch bei anderen Katastrophen braucht es ein resilientes Gesundheitssystem – dazu braucht es ein dichtes Apotheken-Netz.

WELT: 1990 gab es in Deutschland knapp 20.000 Apotheken. Im vergangenen Jahr waren es noch 17.041. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage von Apotheken in Deutschland?

Preis: Wirtschaftlich ist die Lage sehr schwierig. Nach 13 Jahren ohne Erhöhung des Apotheken-Honorars bei gleichzeitiger enormer Kostensteigerung geht die Rechnung für viele Apotheken wirtschaftlich nicht mehr auf. Deshalb erleben wir eine noch nie dagewesene Schließungswelle bei den öffentlichen Apotheken. Und es ist kein Ende abzusehen.

WELT: Pro verkaufter, verschreibungspflichtiger Medikamenten-Packung erhalten Apotheken derzeit 8,35 Euro. In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und SPD festgelegt, das Honorar auf 9,50 Euro zu erhöhen. Wie schätzen Sie dieses Vorhaben ein?

Preis: Wir sind erst einmal froh, dass die neue Koalition erkannt hat, dass Apotheken wichtig sind für die Daseinsvorsorge und dass das Apotheken-Sterben gestoppt werden soll. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte, einmalige Erhöhung des Fixhonorars auf 9,50 Euro ist dringend erforderlich. Nach dieser einmaligen Erhöhung soll dann jährlich über das Honorar verhandelt werden, damit wir nicht erneut ein Jahrzehnt von der allgemeinen Kostenentwicklung abgekoppelt sind.

WELT: Werden 9,50 Euro aus Ihrer Sicht dauerhaft ausreichen?

Preis: Nein, das werden sie nicht, denn gut 80 Prozent der Honorar-Erhöhung werden dann schnell wieder aufgezehrt sein, wenn beispielsweise der Mindestlohn auf 15 Euro erhöht wird und deshalb das Gehaltsniveau in Apotheken steigt. Leidtragende von weiteren Apothekenschließungen sind am Ende immer die Patientinnen und Patienten, vor allem ältere und chronisch kranke Menschen. Gerade für sie werden die Wege immer weiter und komplizierter.

Wir haben ausgerechnet, dass es ein Honorar von zwölf Euro braucht, um das auszugleichen, was uns seit einem Jahrzehnt nicht zugestanden wurde. Die 9,50 Euro aus dem Koalitionsvertrag sind daher ein erster, kleiner Schritt in die richtige Richtung.

WELT: Neben der Schließung von Apotheken kommt es auch kaum zu Neugründungen. 2024 wurden lediglich 48 Apotheken bundesweit neu eröffnet. Was braucht es, damit junge Apotheker wieder mehr Lust auf die Selbstständigkeit haben?

Preis: Die Übernahme einer bestehenden, öffentlichen Apotheke oder auch eine Neugründung ist eine große wirtschaftliche Herausforderung. Aktuell ist ein Viertel der öffentlichen Apotheken wirtschaftlich gefährdet. In dieser Situation kann man nicht erwarten, dass ein großer Zug zur Selbstständigkeit besteht. Die Politik muss Apotheken wirtschaftlich stärken und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen. Wenn das geschieht, bin ich mir sicher, dass wesentlich mehr junge Leute die Initiative ergreifen und Apotheken übernehmen oder neu gründen werden. Die jungen Pharmazeutinnen und Pharmazeuten sind gut ausgebildet und können viel mehr leisten, als man ihnen im Moment ermöglicht.

WELT: NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat sich dafür ausgesprochen, mehr Kompetenzen in die Apotheken zu verlagern. So sollten Apotheken beispielsweise in Fällen, in denen ein Patient regelmäßig ein bestimmtes Medikament bekommt, Rezepte ausstellen dürfen. Damit sollen Arztpraxen entlastet werden. Was halten Sie davon?

Preis: Minister Laumann zielt im Grunde auf das ab, was im Koalitionsvertrag festgehalten wurde. Die Koalition will den Apotheker-Beruf als Heilberuf weiter ausbauen und die öffentlichen Apotheken als niedrigschwellige Anlaufstelle für mehr Präventions- und Früherkennungsmaßnahmen nutzen. Apotheken haben schon wichtige Erfahrungen und Kenntnisse in diesem Bereich, zum Beispiel beim Impfen gegen Corona und Grippe.

Es spricht medizinisch und pharmazeutisch überhaupt nichts dagegen, dass Apotheken – bis auf wenige Ausnahmen – alle Impfstoffe impfen können. Hier können Apotheken genauso helfen wie bei der Früherkennung von Erkrankungen. Bei viel zu vielen leichten Erkrankungen wird außerdem direkt der Arzt oder die Notarztpraxis aufgesucht. Eine strukturierte Einbindung der öffentlichen Apotheken kann zu mehr Effizienz im Gesundheitswesen beitragen, Wartezeiten bei Haus- und Fachärzten reduzieren und die Notfallambulanzen entlasten.

WELT: Der damalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wollte Apotheken so aufstellen, dass kein Apotheker mehr dauerhaft vor Ort sein müsste. Sie haben diese Pläne scharf kritisiert. Sind Sie froh, dass die Ampel-Regierung gescheitert ist?

Preis: Die Umsetzung der Pläne hätte zu erheblichen Qualitätseinbußen geführt. Die Versorgung mit Arzneimitteln ist hochspezifisch und bedarf des Heilberufs des Apothekers beziehungsweise der Apothekerin. Deswegen freuen wir uns auf einen neuen Politikstil im Bundesgesundheitsministerium, der Diskussionen und Austausch auf Augenhöhe zulässt. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hat uns zugesichert, dass sie den Dialog mit den medizinischen und pharmazeutischen Fachverbänden mit ihrem Praxiswissen suchen wird. Das ist wichtig, um unser Gesundheitssystem zukunftssicher aufzustellen.

WELT: Wie sieht aktuell die Situation des Medikamentenmangels in Deutschland aus?

Preis: Durch das Lieferengpassgesetz, das vor zwei Jahren eingeführt wurde, spüren wir in der Praxis keine Besserung. Die Zahl der nicht lieferbaren Medikamente ist zuletzt sogar gestiegen – von knapp 500 Ende 2024 auf inzwischen rund 550. Ein Ende ist nicht in Sicht, da weltweit die Nachfrage hoch ist. Wir werden zunächst damit leben müssen. Besonders betroffen sind aktuell etwa Cholesterin-Senker, ADHS-Medikamente und Präparate gegen psychische Beschwerden. Lieferengpässe lassen sich durch erhebliche Mehrarbeit in den Apotheken oft noch auffangen.

Schwieriger wird es bei Versorgungsengpässen – also wenn es keine wirkstoffgleichen Alternativen gibt. Aktuell sind davon fünf Medikamente betroffen, darunter Antibiotika für Kinder und das Asthma-Mittel Salbutamol. Hier müssen wir auf Ware aus Spanien oder den USA zurückgreifen, um die Versorgung noch sicherzustellen.

WELT: Was fordern Sie?

Preis: Es gibt zu viele bürokratische Hindernisse, die dringend behoben werden müssen. Bei der Nichtlieferbarkeit ist eine Hürde, dass wir vorab häufig mit Ärzten in Kontakt treten müssen. An Wochenenden oder nachts ist das aber oft gar nicht möglich. Apotheken brauchen hier mehr Handlungsfreiheiten. In der Corona-Pandemie hatten wir diese Freiheiten, die den Apotheken eine schnelle und effiziente Arzneimittelversorgung der Patienten ermöglichten. Auch gegenüber den Krankenkassen gibt es für Apotheker viel zu viel Bürokratie.

WELT: Patienten weichen in der Medikamentenknappheit auch auf Versandapotheken aus. Was halten Sie grundsätzlich von Versandapotheken – sind sie Konkurrenz oder Ergänzung?

Preis: Der Versandhandel, insbesondere der aus dem Ausland, stört systematisch den Versorgungsauftrag der öffentlichen Apotheken. Deshalb fordern wir, was in den allermeisten europäischen Ländern schon üblich ist. Nämlich, dass der Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in Deutschland verboten wird. Versandhändler können allein schon wegen der großen Entfernung zu den Patienten keine Gemeinwohlaufgaben wie schnelle Versorgung im Nacht- und Notdienst übernehmen. Dazu braucht es ein dichtes Apotheken-Netz vor Ort, und das darf nicht durch eine Rosinenpickerei von rein Rendite-orientierten Versandhändlern zerstört werden.

WELT: Ist das nicht freier Wettbewerb, den es zu akzeptieren gilt?

Preis: Es gibt sogar konkrete Bereiche außerhalb der Arzneimittelversorgung, in denen der Versandhandel reglementiert werden soll. Um die Flut von Päckchen mit normalen Verbrauchsgütern über chinesische Billighändler zu unterbinden, soll beispielsweise auf diese Händler eine Sonderabgabe erhoben werden.

Bei Medikamenten über den Versandhandel sind es aber mehrere Faktoren, die uns stören. Während Apothekenlager etwa klimatisiert sind, verschicken Versandhändler Medikamente mit Paketdiensten. Über Tage liegen die temperaturempfindlichen Mittel dann in ungekühlten Transportern. Und es gibt keinerlei Dokumentation darüber, unsere Behörden sind überfordert, das zu kontrollieren. Am Ende ist es der Patient, der die Nachteile erleidet, wenn er durch Hitze nicht mehr wirksame Medikamente erhält.

Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.

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