"Die Regierung Netanjahu ist von Rechtsextremisten abhängig"
Viele Deutsche überkommt ein Gefühl der Ohnmacht, wenn sie das Leid in Gaza sehen. Wie geht es Ihnen?
Es ist ein schreckliches Versagen von Politik, was wir dort sehen. Fast Dreiviertel der deutschen Bevölkerung hält das Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt. Die Bundesregierung hat keine Antwort darauf.
Es gibt Forderungen an den Kanzler, sich klar gegen Israel zu stellen. Wie soll das denn mit unserer historischen Verantwortung zusammen passen?
Wir müssen zwischen der unveräußerlichen historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel als jüdischem Staat sowie der Zusammenarbeit mit der Regierung Netanjahu unterscheiden. Diese Regierung ist von Rassisten und Rechtsextremisten abhängig. Diese Differenzierung ist in der deutschen Politik in letzter Zeit durch die Bundesregierung zu kurz gekommen.
Alt-Bundespräsident Joachim Gauck hat kürzlich gesagt: "Es ist für mich kein Genozid, aber es ist für mich ein unverantwortliches Handeln." Stimmen Sie zu?
Ob es sich um Genozid handelt, wird der Internationale Gerichtshof entscheiden, der sich mit dieser Frage auf Basis der Klage Südafrikas auseinandersetzt. Südafrika und Israel haben sehr viel gemein. Beide sind aus historisch schrecklichem, unvergleichlichem Unrecht entstanden und haben sich zu veritablen Demokratien in ihren Regionen entwickelt. Die Frage, ob es sich in Gaza um einen Genozid handelt, wird also in Den Haag verhandelt.
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Ab wann wäre der Genozid-Vorwurf aus Ihrer Sicht erfüllt?
Es gibt Indizien dafür, dass die einschlägige Konvention des Völkerrechts berührt sein könnte. Das sehen Sie daran, dass der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Netanjahu wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen hat. Das ist noch keine Feststellung, dass es sich um Genozid handelt. Alles Weitere muss das Gericht klären.
Wenn wir über historische Verantwortung sprechen – müsste sich nicht gerade Deutschland mit Kritik an der israelischen Regierung zurückhalten?
Dass Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber Israel trägt, ist Grundlage unseres demokratischen Selbstverständnisses. Doch geschieht diese historische Verantwortung auf Basis des Völkerrechts. Verstöße gegen das Völkerrecht wie die angekündigten ethnischen Säuberungen in Gaza sind daher nicht von der Solidarität mit Israel – und auch nicht von der deutschen Staatsräson – gedeckt.

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Die israelische Bevölkerung steht mehrheitlich weiterhin hinter ihrer Regierung und es gibt viele deutsche Juden, die die deutsche Kritik am israelischen Vorgehen als wohlfeil empfinden.
Ich kenne eine ganze Reihe von deutschen Jüdinnen und Juden, die die Politik von Netanjahu kritisieren, viel deutlicher, als Deutsche es tun sollten. Und ich kenne eine Reihe von Israelis, die ihrer eigenen Regierung Kriegsverbrechen vorwerfen und von Genozid wie von Apartheid sprechen. Netanjahu behauptet, dass alle die, die gegen ihn sind, Antisemiten seien. Das sind diese Menschen nicht.

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Überschätzen wir unseren deutschen Einfluss nicht?
Netanjahu wird sich kaum beeinflussen lassen, solange er die Unterstützung durch Donald Trump hat. Da sollten wir uns nichts vormachen. Dennoch brauchen wir eine gemeinsame europäische Haltung, etwa bei der Forderung von Frankreich und Österreich nach einem sofortigen Waffenstillstand. Da verweigert sich die Bundesregierung. Der Europäische Auswärtige Dienst hat festgestellt, dass Israel mit seinem Vorgehen die Grundlagen des EU-Assoziierungsabkommens infrage stellt. Es war sehr unklug, dass Deutschland eine Aussetzung ausgeschlossen hat, bevor überhaupt die Einschätzung vorlag. Wir hätten zudem gemeinsam als Europäer entscheiden sollen, ob wir als Verbund den Staat Palästina anerkennen, nachdem Netanjahu angekündigt hatte, er wolle die Palästinenser aus Gaza vertreiben. Das ist eine klare Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung, für die die Europäer stehen.
Was wäre das für ein Signal an die Hamas, wenn Deutschland Palästina als eigenen Staat anerkennen würde?
Es wäre zunächst ein Signal an die Palästinensische Autonomiebehörde, dass wir unsere Versprechungen ernst meinen und nicht zusehen, wenn die ethnische Säuberung von ganzen Landstrichen geplant und umgesetzt wird. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist unser Partner, die Hamas unser Gegner.
Sollte die Bundesrepublik an den Staat Israel noch Waffen liefern?
Solange der Verdacht besteht, dass diese Waffen für völkerrechtswidrige Handlungen genutzt werden, dürfen wir das gar nicht. Das ist keine Willensfrage. Wir dürfen es nicht. Im Übrigen würde das wahrscheinlich den Spalt zwischen weiten Teilen der politischen Elite in Deutschland und der Bevölkerung etwas schließen. Fast 75 Prozent der Deutschen wollen die Waffenlieferungen an Israel begrenzen oder aussetzen.
Sollte Deutschland Evakuierungsflüge für schwer Erkrankte in Gaza zu organisieren?
Das ist sicherlich eine gelungene humanitäre Geste, aber es ist noch keine Politik. Die Politik muss sein, dass auf ein Ende der Kampfhandlungen gedrängt wird. Dazu gehört, alle Instrumente zu prüfen und einzusetzen.
Heißt konkret?
Wir sollten uns der Erklärung für einen sofortigen Waffenstillstand anschließen, das Assoziierungsabkommen zwischen Israel und der Europäischen Union aussetzen und eine Koalition der Willigen innerhalb der EU bilden, die Palästina als Staat anerkennt.
Es gibt Stimmen, die Sanktionen gegen Israel fordern. Wie weit würden Sie da gehen?
Personen, die für massiven Terror in der Westbank gegenüber der dort ansässigen palästinensischen Bevölkerung verantwortlich sind, sollten sanktioniert werden. Das haben Großbritannien und Frankreich schon auf den Weg gebracht und Deutschland wäre sehr gut beraten, mit ihnen auf einer Linie zu sein.

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Stünde nicht da ganz schnell der Vorwurf der Geschichtsvergessenheit im Raum? Ausgerechnet Deutschland, das im Nationalsozialismus eine "Kauft nicht beim Juden"-Politik propagierte, beteiligt sich an Boykottaufrufen gegen Israel?
Wir reden in der aktuellen Lage über völkerrechtswidrige Siedlungen, und Siedler, die palästinensische Einwohner auf ihrem Grund mit Waffengewalt terrorisieren. Diese Siedler dürfen nicht mit allen Jüdinnen und Juden gleichgesetzt werden.
Bislang lässt US-Präsident Donald Trump die israelische Regierung sowohl in Gaza als auch im Westjordanland gewähren und setzt Netanjahu kaum Grenzen. Womit rechnen Sie jetzt?
Donald Trump hat bei Israels Militärschlag gegen den Iran durch seine Intervention deutlich gemacht, dass sich die USA nicht in einen großen Krieg gegen den Iran hineinziehen lassen wollen. Aber sowohl Trump als auch Netanjahu haben ein Problem. Wie soll dieser Krieg zu Ende gebracht werden? Es gibt keine politische Lösung, die tragfähig wäre jenseits derer, für die die Europäer seit geraumer Zeit streiten: Dass alle Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer ein Recht auf Leben in Sicherheit und Frieden haben. Palästinenser zu drangsalieren, bis andere Länder sie aufnehmen und damit sich zu Helfern einer ethnischen Säuberung machen, halte ich für kein erfolgversprechendes Rezept. Ich bin überzeugt, dass die arabischen Staaten da nicht mitmachen werden.
Sehen Sie denn ein Modell, wie eine palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen wieder leben kann?
Voraussetzung ist die Anerkennung Palästinas als politisch souveränem Staat und damit anerkanntem Gesprächspartner. Was dafür ebenfalls notwendig ist: Dass mittels freier Wahlen in Palästina wieder demokratische Verhältnisse hergestellt werden. Die letzten Wahlen sind 16 Jahre her.
Sie glauben ernsthaft, dass das möglich ist?
Das ist ein sehr schwieriger Prozess. Daran zweifelt niemand. Mir hat nur noch niemand eine bessere Lösung gezeigt.
Muss nicht zwingend auch zur deutschen Strategie gehören, Druck auf die Hamas auszuüben?
Natürlich muss das so sein. Wir haben zum Beispiel als Bundesregierung noch unter der Ampel hier entsprechende Hamas-nahe Vereine verboten.
Wie wäre es damit, dass die Hamas alle noch in Gaza befindlichen Geiseln, darunter sieben mit auch deutscher Staatsbürgerschaft, bedingungslos freilässt?
Die Geiseln müssen frei kommen. Das setzt einen Waffenstillstand voraus. Relevante Geiselbefreiungen hat es nur in Phasen von Waffenstillständen gegeben. So verlangen es die Angehörigen der Geiseln – übrigens unterstützt von ehemaligen Botschaftern Israels in Deutschland.
In Israel erleben wir eine Gesellschaft, die durch die Erfahrung des 7. Oktober extrem verunsichert und verängstigt ist und in weiten Teilen Netanjahus Vorgehen zumindest billigt. In Gaza wächst eine Generation heran, die mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage und Hass auf Israel aufwächst. Wenig Grund zur Hoffnung für diesen Konflikt, oder?
Nein, aber sehen Sie, ich bin in meinem politischen Leben außer in den USA in keinem Land beruflich häufiger unterwegs gewesen als in Israel und Palästina. Jedes Mal dachte ich: Es kann nicht schlechter werden. Und dann wurde es schlechter. Es gibt keine einfachen Lösungen. Deshalb ist es umso wichtiger, sich auf die Grundlagen zu konzentrieren. Und die sind unsere historische Verantwortung für den Staat Israel, die daraus auch resultierende Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser und Palästinenserinnen und die Unteilbarkeit des Völkerrechts.
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