Für die Bundeswirtschaftsministerin ist es „unumgänglich“: „Wir müssen mehr und länger arbeiten“, sagte Katherina Reiche (CDU) der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Mit Blick auf den demografischen Wandel und eine „weiter steigende Lebenserwartung“ könne es „auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“. Die Politik müsse „Anreize für Frühverrentungen stoppen und Anreize dafür schaffen, länger zu arbeiten“.

Reiche wies darauf hin, dass es hierzulande zahlreiche Menschen gebe, die das auch wollten: „Das Lebensglück besteht für viele Menschen eben nicht allein darin, möglichst früh in Rente zu gehen, sondern ihre Erfahrung weiter einbringen zu können.“

Kanzler Friedrich Merz (CDU) schlug im Mai beim CDU-Wirtschaftsrat in eine ähnliche Kerbe. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte Merz beim Wirtschaftstag des parteinahen Interessenverbands. „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“

Der CDU-Sozialflügel übte scharfe Kritik an Reiches Äußerungen: Diese hätten keine Grundlage im Koalitionsvertrag, sagte Christian Bäumler, Bundesvize der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). „Wer als Wirtschaftsministerin nicht realisiert, dass Deutschland eine hohe Teilzeitquote und damit eine niedrige durchschnittliche Jahresarbeitszeit hat, ist eine Fehlbesetzung.“

Wie kommen Reiches Äußerungen zu einem längeren Erwerbsleben und einem späteren Renteneintritt im Bundestag an? Die CDU/CSU-Fraktion äußerte sich auf WELT-Anfrage nicht dazu.

Kritik kam vom Unions-Koalitionspartner SPD: Vizefraktionschefin Dagmar Schmidt warf Reiche in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe eine Argumentation „mit irreführenden Zahlen zur Arbeitsbelastung“ sowie „fernab der Lebensrealität der meisten Menschen“ vor. „Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen ist seit Mitte der 2000er-Jahre deutlich angestiegen.“ Schmidt betonte, insbesondere viele Frauen arbeiteten in Teilzeit: „Würden sie alle ihre Arbeit kündigen, stiege das durchschnittliche Arbeitsvolumen.“ Zudem arbeite knapp die Hälfte der Beschäftigten länger als vertraglich vereinbart.

Die Sozialdemokratin widersprach Reiches Argumentation auch insofern, als es „vor allem Menschen mit höheren Einkommen“ seien, die eine höhere Lebenserwartung haben. Für alle, die über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten wollen, lohne sich das schon heute. „Die, die es nicht können, gilt es zu schützen. Für sie ist jede Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine Rentenkürzung. Das wird es mit der SPD nicht geben.“

Oppositionsparteien weisen auf Teilzeit-Problematik hin

Auch die Grünen-Fraktion übt scharfe Kritik an Reiches Äußerungen. „Das Renteneintrittsalter steigt bis 2031 schrittweise auf 67 Jahre. Dass Frau Reiche das einfach ignoriert, zeigt, dass sie sich nicht an der Realität im Land orientiert, sondern ideologisch Phrasen drischt“, sagt Fraktionsvize Andreas Audretsch. „Menschen mehr Arbeit zu erschweren, Geflüchteten das Arbeiten gleich ganz zu verbieten und dann mehr Arbeit älterer Menschen zu fordern, zeigt die ganze Konzeptlosigkeit von Frau Reiche.“ Zur Stabilisierung der Rente sei es wichtig, Menschen in „gut bezahlte Jobs zu bringen“. Die Ministerin solle sich daher für den „Abbau prekärer Beschäftigung, insbesondere von Minijobs“ einsetzen, fordert Audretsch.

Richtig wäre es zudem, „den Menschen mehr Arbeit zu ermöglichen, die können und wollen“, sagt der Grünen-Politiker. „Das bedeutet zum Beispiel altersgerechte Arbeitszeitmodelle und finanzielle Anreize, um länger mehr zu arbeiten. Und wenn Frauen so viel arbeiten könnten, wie sie selber wollen, würde in Deutschland zusätzliche Arbeit im Umfang von 850.000 Vollzeit-Äquivalenten geleistet.“ Dafür müsste man Anreize im Steuerrecht schaffen und die Kinderbetreuung ausbauen.

Für Linke-Fraktionschef Sören Pellmann sind Reiches Äußerungen „Teil einer immer heftigeren Kampagne von Union und Arbeitgebern gegen die Mehrheit und den Sozialstaat“, wie er WELT sagt. „Der Ministerin geht es nicht um gute Wirtschaftspolitik, sondern absehbar um Rentenkürzungen, entgrenzte Arbeitszeit, noch mehr Schufterei und Kürzungen im Sozialen – ganz im Sinne einer ,Agenda Merz 2030‘.“ Kranken- und Rentenversicherung seien „vor allem deswegen überlastet, weil Union und SPD verhindern, dass Reiche und Vermögende sich angemessen an deren Finanzierung beteiligen“.

Seine Forderung: „Statt die Menschen im Land zu belehren, sollte Wirtschaftsministerin Reiche jene Defizite anpacken, die seit Langem bekannt sind.“ Vielen Menschen sei der Zugang zum Arbeitsmarkt mangels Ausbildung verwehrt, viele Frauen würden wegen fehlender Kinder-Betreuungsplätze „in Teilzeit gezwungen“. Die Ministerin könne zudem wissen, „dass Beschäftigte in Deutschland vergangenes Jahr circa 1,2 Milliarden Überstunden geleistet haben  –mehr als die Hälfte davon unbezahlt – und dass für viele Menschen schon jetzt nach einem Leben voller Arbeit Armutsrenten warten“.

Pellmann plädiert für eine „Umverteilung von Arbeit, Qualifizierung, bessere Kinderbetreuung und soziale Sicherungssysteme, an deren Finanzierung sich alle beteiligen und Vermögende sich entsprechend ihrer Möglichkeiten mehr einbringen als bisher“.

Für die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der AfD-Fraktion, Gerrit Huy, ist das größte Problem die „schlechte Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Sie stagniert oder wächst weit unterdurchschnittlich seit gut zehn Jahren. Wir haben zu wenig Investitionen in Rationalisierung und Innovation, die für eine Verbesserung sorgen könnten. Es ist halt nicht mehr attraktiv, in Deutschland zu investieren.“ Hierin liege der „wesentliche Schlüssel für eine Stabilisierung und Verbesserung unserer Renten“, sagt Huy WELT und kritisiert Reiche: „Statt die arbeitende Bevölkerung zu beschimpfen, soll sie erst einmal zeigen, was sie kann.“

Die AfD-Politikerin betont zudem, das „mögliche Arbeitsvolumen“ werde erheblich durch fünf Millionen Erwerbsfähige reduziert, die „nicht oder nicht ihren Lebensunterhalt deckend arbeiten. Vier Millionen von ihnen sitzen trotz vieler offener Stellen im Bürgergeld.“ Hinzu komme eine „sehr hohe Teilzeit-Arbeitsquote, insbesondere bei Frauen“. Dies dürfe nicht einem Mangel an Kita-Plätzen geschuldet sein: „Deshalb fordern wir auch eine Priorisierung berufstätiger Eltern bei der Platzvergabe.“

Als weiteres Problem macht Huy einen späten Berufseintritt aus: „Das liegt unter anderem daran, dass bei uns das durchschnittliche Alter, in dem eine Ausbildung begonnen wird, inzwischen bei 20 Jahren liegt.“

Die meisten Beschäftigten hierzulande arbeiteten „sehr fleißig“, sagt Huy. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter habe 2024 mit 64,4 Jahren „ganz oben in Europa und der OECD“ gelegen. Zugleich sei die Lebenserwartung der Deutschen niedriger als „in vielen anderen Ländern“. Tatsächlich lag sie 2023 laut OECD mit 81,2 Jahren erstmals unter dem EU-Durchschnitt von 81,5 Jahren.

Johannes Wiedemann ist Leitender Redakteur Politik Deutschland.

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