„Morgen wirst du sterben“, habe ihm ein Mitschüler aus Syrien zugerufen
Während am 7. Oktober 2023 viele in Deutschland schockiert auf den Terror der Hamas blickten, veränderte sich für Juden das Leben grundlegend – nicht nur durch den Angriff, sondern durch das, was darauf folgte. Das Wort „normal“ verlor seine Bedeutung.
„Das Leben hörte auf, normal zu sein“, beschreibt etwa eine im Jahr 1992 aus der Ukraine eingewanderte Jüdin ihren Alltag seit dem genozidalen Massaker in Israel. „Wir arbeiten und ‚funktionieren‘ weiterhin, aber die Geiseln sind im Kopf, Antisemitismus auf den Straßen, auf dem Campus.“
Die Frau, die sich zuvor gemeinsam mit muslimischen und linken Partnern gegen Rassismus engagierte, fühlt sich nun getäuscht. „Was beobachte ich? Ein eklatantes Schweigen, alle schweigen, geben keinen Laut von sich, als ob alle einen vollen Mund mit Wasser hätten“, sagt sie, auch über ihre bisherigen Bündnispartner.
Die Zitate stammen aus einer Studie von Julia Bernstein zu den Auswirkungen des islamistischen Terrorangriffs auf jüdisches Leben in Deutschland, die vom Tikvah-Institut in Auftrag gegeben sowie vom Bundesinnenministerium finanziert wurde und kürzlich im Nomos-Verlag erschienen ist. Aus den Interviews, die die Soziologin geführt hat, wird deutlich, wie tief greifend sich das Sicherheitsgefühl und das Selbstverständnis vieler Juden verändert haben.
Die genannte Interviewpartnerin berichtet etwa, sie habe im Zusammenhang mit einer israelfeindlichen Demonstration plötzlich Angst verspürt, auf die Straße zu gehen. Durch ihre Funktion in der jüdischen Gemeinde habe sie zwar eine gute Beziehung zu Vertretern islamischer Verbände aufgebaut, zu diesen aber dann das Vertrauen verloren.
„Unsere Gemeinde befindet sich in einer internationalen Gegend“, dies sei „immer schön zu sehen“ gewesen, erzählt sie. „Jetzt fühle ich mich in einer feindlichen Umgebung, und ich habe Angst, dass man auf Hamas-Unterstützung stößt und die Sicht, Abschlachten sei Widerstand.“
Auch ein in Deutschland geborener Interviewpartner beschreibt in der Studie, seinen Alltag nun als feindselig und gefährlich wahrzunehmen. „Während er Arabisch zuvor als selbstverständlichen Bestandteil seiner multikulturellen Lebenswelt wahrgenommen und sogar ein Interesse daran gehabt habe, versetze es ihn in der Jetzt-Situation in Angst, wenn er jemanden – wie bei der nächtlichen Zugfahrt – auf Arabisch sprechen höre“, heißt es darin. „Die Angst ist auf das Szenario bezogen, er könne sich ungewollt als Jude zu erkennen geben – etwa bei einem unbedachten Telefongespräch oder durch das Öffnen einer Instagram-Seite, auf der über Israel berichtet wird.“
Sogar in Bezug auf den bisherigen Freundes- und Bekanntenkreis beschreiben weitere Befragte ein auf Selbstschutz angelegtes Verhalten. Einer beobachtet laut Studienautorin etwa eine „antisemitische Feindbildmarkierung bei türkischen Kindheitsfreunden“. Ein früherer Freund setze den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mit Hitler gleich, ein anderer poste in sozialen Medien Hamas-Propaganda.
Eine weitere Teilnehmerin berichtet, sie habe mehrere Bekannte fälschlicherweise in einer „Allianz gegen Judenfeindschaft“ gesehen. „Viele Menschen fühlen sich jetzt sehr einsam, weil sie erwartet haben, von ihren – wie sie dachten – Freunden Unterstützung zu bekommen. Aber niemand hat ihnen Unterstützung gegeben, nicht einmal Worte der Solidarität.“
„Umwelttauglich“ verhalten – ohne sichtbare Kippa
Es handelt sich um eine qualitative Studie, die keinen Anspruch auf zahlenmäßige Verallgemeinerbarkeit, sondern auf analytische Tiefenschärfe abhebt. Qualitative Sozialforschung will verstehen, wie Menschen denken, fühlen und deuten – gerade bei komplexen und oft nicht in Skalen und Prozenten messbaren Phänomenen. Bernsteins Studie zählt daher nicht, sie hört zu. Diese Methodik ermöglicht Berichte, in denen die Interviewten selbst gewichten, was für sie bedeutsam ist, ohne dass ihre Aussagen in Antwortvorgaben gepresst werden.
Mehr als 90 Prozent der in Deutschland lebenden Juden sind Einwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und deren Nachkommen. „Was als neues Zuhause erschlossen worden ist, droht nun angesichts des grassierenden Antisemitismus diesen Status zu verlieren“, heißt es in der Studie. Etwa eine seit 1999 hierzulande lebende Interviewpartnerin nennt es einen Irrtum, nach Deutschland statt nach Israel eingewandert zu sein. „Viele versuchen, nicht an die nächste Migration zu denken, weil dieser Gedanke für sie belastend ist“, sagt sie.
Die in Deutschland geborenen Interviewpartner äußern sich hingegen anders. Sie sehen ihre Zukunft hier, drücken aber die Angst aus, dass ein gleichberechtigtes jüdisches Leben zunehmend unmöglich werde. Mehrere Interviewpartner berichten außerdem, konkrete Maßnahmen zum Schutz ihrer Familien getroffen zu haben. Ein Mann, ebenfalls Mitte der 90er-Jahre aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, äußert sogar den Wunsch, in der Öffentlichkeit zur Selbstverteidigung eine Schusswaffe zu tragen. Kippa tragende Freunde seiner Kinder bittet er, sich im Wohnumfeld „umwelttauglich“ zu verhalten – „das heißt, eine Baseballkappe aufzuziehen“.
Israel erscheine insbesondere unter Kontingentflüchtlingen – also jenen postsowjetischen Zuwanderern – als „Sehnsuchtsort“ jüdischen Lebens, heißt es in der Studie weiter. Zu Deutschland bestehe hingegen häufig eine „emotional-identifikatorisch eingeschränkte Bindung“. Bernstein führt dies wesentlich auf Erfahrungen mit Judenhass sowie einem bagatellisierenden Umgang der Gesellschaft mit Judenhass zurück. Immer wieder stellen die Interviewpartner etwa heraus, mit Antisemitismus allein gelassen zu werden.
Die negativen Erfahrungen nach dem 7. Oktober betreffen auch Schüler. Ein Interviewpartner berichtet etwa, ein Freund seines Sohnes sei „auf einem angesehenen Gymnasium von muslimischen Mitschülern angefeindet und bedroht“ worden. Der Jugendliche hatte zuvor in sozialen Medien eine Israelflagge gepostet.
Ein 15-Jähriger berichtet, kurz nach dem Massaker von einem Mitschüler aus Syrien nach Schulschluss mit den Worten „Morgen wirst du sterben“ bedroht worden zu sein. Die Hamas hatte damals den „Tag des Zorns“ ausgerufen und damit zum globalen Judenmord aufgerufen.
Der Bruder des 15-Jährigen berichtet, im Wissen um die Bedrohung aus der Universität nach Hause geeilt und die Haustür verbarrikadiert zu haben. „Alle seine Verwandten hätten Angst um ihn und um seinen Bruder gehabt“, heißt es in der Studie. „Sie seien davon ausgegangen, es könne in Deutschland zu Anschlägen auf Jüdinnen und Juden kommen.“
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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