Wo Pflegepatienten erst reinkommen, wenn die Einzugsermächtigung steht
Im Aufenthaltsraum der Seniorenresidenz Arnum in Hemmingen bei Hannover klickt ein Sauerstoffgerät, von der Decke baumeln Bilder von Erdbeerkuchen-Stücken. „Lauter!“, ruft ein betagter Mann, dann noch einer, in Richtung von Christopher Nolde, der in einer Ecke des Raums vor einer PowerPoint-Präsentation steht und Senioren, Pflegerinnen und Angehörigen erklärt, wie man auf dem Pflegemarkt Geld verdient.
Nolde, hochgewachsen, Ex-Fallschirmjäger, Krisenmanager, ist Vorstandschef des Pflegeheim-Betreibers Compassio, zu dem Arnum gehört. Compassio ist Deutschlands fünftgrößter privater Pflegeheim-Betreiber: 2024 erwirtschafteten 9000 Mitarbeiter aus mehr als 100 Nationen mit 11.000 Betten 500 Millionen Euro Umsatz. Nolde drehte das Unternehmen von roten auf schwarze Zahlen. Hinter dem Unternehmen steht der niederländische Private-Equity-Fonds Waterland, circa 15 Milliarden Euro wert.
Laut einem Papier der Universität Duisburg-Essen werden Über-80-Jährige bis zum Jahr 2050 mehr als zehn Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen. Pflege ist ein Wachstumsmarkt.
„Kennen Sie sich mit Refinanzierung in der Pflege aus?“, fragt Nolde auf die Frage einer Angehörigen nach der Unternehmensentwicklung in die Runde. Dann beginnt er zu erklären: „In der deutschen Pflegebranche tragen wir als Betreiber erst einmal alle Kosten – und holen sie uns dann über die Pflegekassen und Eigenanteile der Bewohner zurück.“
Kassen und Sozialämter zahlten aber teils mit erheblichem Verzug, bei großen Unternehmen wie Compassio könnten Außenstände im größeren einstelligen Millionenbereich zusammenkommen, sagt Nolde. „Ohne SEPA-Einzugsermächtigung können wir nicht aufnehmen, hier müssen wir unternehmerisch denken“, sagt er.
Die Rechnung geht so: Die Erstattung durch die Kostenträger – also Pflegekassen und Sozialhilfeträger – erfolgt nur für belegte Plätze. Alle Fixkosten – von der Miete bis zu den Personalkosten – werden unter der Annahme kalkuliert, dass jedes Zimmer belegt ist. Leerstand bedeutet Einnahmeverluste, denn es gibt keine Vorhaltepauschalen für ungenutzte Betten. Ist ein Heim zu 80 Prozent belegt, fehlen 20 Prozent der Einnahmen, die Fixkosten laufen weiter.
Zimmer bleiben nicht leer, weil es an Pflegebedürftigen mangeln würde – sondern an Personal. Die Heimaufsicht kann dann Belegungsstopps verhängen oder in dem Fall, dass sie Qualitätseinbußen feststellt. Die wiederum treten etwa auf, wenn wegen zu wenig Personals der Rest des Pflegefachpersonals überlastet ist und deshalb Mitarbeiter kündigen. Ein Teufelskreis, auf den viele Insolvenzen im Pflegebereich zurückgehen. Vollbelegung plus effiziente Zeitnutzung dagegen schaffen Rendite.
In Arnum leben auf 93 Zimmern 90 Bewohner, versorgt von 87 Pflegern und Betreuern, 23 Beschäftigten im Service plus zehn Azubis. Über die Hälfte der Mitarbeiter kommt aus dem Ausland. Die Konkurrenz um das knapper werdende Pflegepersonal mit Deutsch als Muttersprache ist groß. „Gerade, weil sich große oder private Träger nicht durch das Gehalt differenzieren können – das Tariftreuegesetz regelt die Anpassungen und Höhe der Gehälter des Pflegepersonals –, müssen wir als Arbeitgeber über andere, nicht monetäre Faktoren punkten, wie vielfältige technische Hilfsmittel, hochwertige Arbeitsausstattung und moderne Arbeitsumfelder durch neue Immobilien“, sagt Nolde.
Wie, das zeigen er und einige Mitarbeiter auf ihrer Tour durchs Arnumer Heim, dabei ist auch Franziska Niemesch, Mitte 30, Wohnbereichsleiterin.
„Du hast halt nur einen Rücken“
„Da ist das gute Stück“, sagt sie mehr zu sich selbst als in die Runde, als sie ein Zimmer betritt. Dort steht „Sara 3000“, ein Gerät, mit dem die Pflegekräfte Bewohner vom Bett in den Rollstuhl oder auf Toilette hieven können. Vier dieser Geräte gibt es im Heim, jeweils mit Wartungsvertrag sowie Technikern auf Abruf, damit sie stets verfügbar sind. „Das kostet richtig Geld“, sagt Nolde, weit über die 2000 bis 3000 Euro pro Anschaffung hinaus, die von den Kostenträgern nicht erstattet würden.
„Du hast halt nur einen Rücken“, sagt Niemesch mit Blick auf die körperliche Belastung der Pflegekräfte. Sie kennt auch Einrichtungen, in denen die Geräte nicht verfügbar sind oder viel weniger davon.
„Sara 3000“ ist nur ein Beispiel. Auch das Gebäude, von dessen Typus die Gruppe gerade mehrere neu errichten lässt durch einen Spezialanbieter, die Compassio dann anmietet, gehört zur Strategie. Der Anbieter manage auch die 16 einzelnen Landesbauordnungen, die etwa exakt die zulässige Höhe für Waschbecken in Pflegezimmerbädern vorschreiben, so Nolde. Die Pflegedienstzimmer sind klimatisiert und die Gänge baulich so gestaltet, dass sie den Bewohnern weniger lang erscheinen als sie sind, was zur Bewegung animiert – mehr Mobilitätserhalt, weniger Stürze, weniger Belastung auch für das Pflegepersonal.
Die derzeit geplanten Neubauten der Compassio auf den Standards der Arnumer Einrichtung kosten um die 20 Millionen Euro pro Bau – mit entsprechenden Mietkosten. „Wer kann sich das leisten?“, fragt Nolde vor der Seniorenresidenz. Subtext: Sein Unternehmen kann es. Laut „pflegemarkt.de“ sind mehr als 30 Prozent aller Pflegeimmobilien Deutschlands älter als 40 Jahre, es gibt einen Milliarden-Sanierungsstau, den kleine Anbieter kaum stemmen können.
Compassio investiert derweil auch in die Weiterentwicklung des unternehmensweiten IT-Systems zur Pflege-Dokumentation auf Basis künstlicher Intelligenz. Es läuft auf Smartphones und wird bald allen Mitarbeitern in der Brusttasche stecken und mitlaufen, wenn sie am Pflegebett dokumentieren, ob es Druckstellen gibt oder der Patient genug getrunken hat. Sie müssen nur laut vor sich her sprechen, egal, ob auf Deutsch, Thai oder anderen Sprachen. Das System wandelt das Gesprochene dann in gerichtsfeste Pflege-Dokumentation auf Deutsch um.
„Jede Minute, die ich meiner Pflegekraft spare an Zeit beim Ausfüllen irgendwelcher Dokumente, ist eine Minute mehr am Bett, für Mobilisierungsübungen, für das Kümmern um die Bewohner“, sagt Nolde.
Kritiker sagen: Private-Equity-Pflegeketten wie Compassio sparten an den Bewohnern für die Rendite – aber der pauschale Nachweis für Deutschland fehlt. Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler etwa sagt: „Internationale Erkenntnisse weisen eher darauf hin, dass gewinnorientierte Unternehmen eine schlechtere Qualität erzeugen. Deutschland hat diesbezüglich keine Auswertungen.“ Der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang stellt fest: „Ohne private Anbieter ist eine Sicherstellung der Versorgung undenkbar.“
Schon, weil die Heimaufsichten aufgrund von Qualitätsmängeln Belegungsstopps verhängen können, gebe es einen großen Anreiz, die Qualität hochzuhalten, sagt Christopher Nolde. Fehler ließen sich nie ausschließen, auch bei Compassio gebe es derzeit drei bemängelte Einrichtungen mit Belegungsstopp. Grund: die Wundversorgung bei Bewohnern.
Nolde führt das auf Missmanagement zurück: „Eine junge Pflegerin setzt sich vielleicht nicht gegen einen renitenten Bewohner durch, lagert ihn deshalb nicht um, Liegewunden entstehen – und wenn dann der Vorgesetzte die Situation nicht erkennt und eingreift, entsteht schnell eine Kultur, in der sich Missstände anhäufen“, so schildert es Nolde. „Die Personalauswahl, angefangen bei der Hausleitung“ sei also zentral. Pflege, sagt Nolde, ist kleinteiliges Management von Menschen an Menschen.
Hausleiter in Arnum ist Carsten Bothe, 30 Jahre Pflegeerfahrung. „Sehen Sie die beiden da vorne, fast 100 Jahre alt, und können noch eigenständig über unseren Vorplatz laufen – das ist doch geil!“, fährt es einmal aus ihm heraus auf der Tour durchs Gebäude. Vor einem Jahr kehrte er aus der Weiterbildung in die Praxis zurück. „Die meisten von uns haben ein Helfersyndrom und ziehen ihre Energie aus diesem Grinsen von unseren Bewohnern“, sagt er. Das habe ihm gefehlt in seinem vorherigen Job.
Die Qualität der Arbeit seiner Mitarbeiter kann man im Netz einsehen unter einem Dokument namens „Qualitätsinformation über die Pflegeeinrichtung“. Der darin aufgeführte externe Prüfbericht des Medizinischen Diensts und des Prüfdiensts des Verbandes der privaten Krankenversicherungen von Oktober 2024 vergab in fast allen Teilbereichen wie „Wundversorgung“ oder „Nächtliche Versorgung“ die Bestnote: „Keine oder geringe Qualitätsdefizite.“
Das hat seinen Preis. Die Selbstbeteiligungskosten in Arnum liegen laut Bothe im Mittel bei 3175 Euro pro Platz im Monat. AOK-Daten zufolge liegt der Eigenanteil knapp 1000 Euro über dem Niedersachsen-Durchschnitt. Die Kosten für einen Pflegeheimplatz setzen sich aus Pflegekosten, Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionskosten zusammen und werden teils je nach Pflegegrad von der Pflegekasse, teils vom Bewohner selbst getragen. Bei Bedürftigkeit übernimmt das Sozialamt den Eigenanteil.
Die meisten Bewohner in Arnum zahlen laut Bothe den Eigenanteil selbst, nicht umsonst nenne man das umliegende Hannoversche Viertel „Beverly Hemmingen“. Die Anwohner seien wohlhabend. Nur für einige wenige springe das Sozialamt ein, so Bothe – die entsprechenden Mittel heißen „Hilfen zur Pflege“, jeder Bedürftige kann sie beantragen. „Noch herrscht Wahlfreiheit bei der eigenen Unterbringung im Alter“, sagt er und stellt damit in den Raum: Das bleibt vielleicht nicht immer so.
Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke