Wie neutral müssen Verfassungsrichter sein?
- Eine SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht steht wegen früherer Äußerungen zum Schwangerschaftsabbruch in der Kritik.
- Fachleute betonen: Wissenschaftliche Positionen schließen eine Karriere am Bundesverfassungsgericht nicht aus.
- Der Einfluss einzelner Verfassungsrichterinnen und -richter ist begrenzt – auch wegen der zeitlich befristeten Amtsdauer.
Es geht um die Potsdamer Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf. Sie war Teil der Expertenkommission, die die Legalisierung von Abbrüchen in der frühen Schwangerschaft empfohlen hatte. Auch in einem wissenschaftlichen Artikel kommt sie zu dem Schluss, dass es "gute Gründe" dafür gebe, dass die Menschenwürde erst ab der Geburt gelte. In einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel hatte Brosius-Gersdorf sich zudem zum Kopftuchverbot geäußert. Dieses verstoße bei Rechtsreferendarinnen "nicht gegen das Neutralitätsgebot des Staates".

SPD-Kandidatin Brosius-Gersdorf sorgt für Kritik
Stimmen aus der Union ist das zu links. Die CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig nennt die Kandidatin sogar "unwählbar". Christian Löffler ist Vorsitzender des Richterbundes in Sachsen-Anhalt und betont: Neutralität im Amt sei ein zwingendes Gebot des Rechtsstaatsprinzips, Meinungsvielfalt in der Wissenschaft aber genauso wichtig. "Bei Rechtsprofessoren ist es ja gerade so, dass diese in der Wissenschaft tätig sind und dort auch das Recht weiterentwickeln sollen. Und da ist es gerade wichtig, dass Rechtsprofessoren auch unterschiedliche Meinungen vertreten." Das heißt: Wenn Brosius-Gersdorf sich vorher als Wissenschaftlerin äußerte, ist daran erstmal nichts zu beanstanden. Das betont Michael Brenner, Verfassungsrechtler an der Uni Jena.
Kontroversen können Kandidaten die Wahl kosten
Allerdings zeigen frühere Fälle: Wer in der Öffentlichkeit umstritten ist, kann als Kandidat auch scheitern. "Das war vor etwa 15 Jahren, und zwar der Doktorvater von Frau Brosius-Gersdorf, Professor Dreier", erinnert sich Brenner. "Er war vorgesehen als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Er hatte sich literarisch mit der Würde des Menschen auseinandergesetzt in einem von ihm herausgegebenen Kommentar. Und diese Kommentierung stieß dann doch sehr auf große Reserviertheit." Das habe am Ende dazu geführt, dass Dreier nicht gewählt wurde und nicht nach Karlsruhe einzog. Auch Dreier hatte sich zum Schutz des ungeborenen Lebens geäußert.
"Nicht ganz zufällig", findet André Brodocz jetzt die lauten Stimmen aus der Union. Brodocz ist Professor für Politische Theorie an der Uni Erfurt. Er hält die Kritik an Brosius-Gersdorf für nicht berechtigt: "Weil nämlich die rechtliche Eignung einer Person als Verfassungsrichterin oder -richter nicht davon abhängt, dass diese Person alle bisherigen Positionen und Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus der Vergangenheit teilt. Politisch betrachtet wollen meines Erachtens Teile der Union einem möglichen Wandel in der bisherigen Rechtsprechung, insbesondere zum Schwangerschaftsabbruch, auf diese Weise entgegenwirken."
Einfluss einzelner Richter ist begrenzt
Eine einzelne Person am Bundesverfassungsgericht habe auch nicht so viel Einfluss, wie viele denken, sagt Brodocz. Zum einen, weil die Richterinnen und Richter dort kein Urteil allein treffen. Dies geschieht entweder zu dritt, meistens zu acht. Der zweite wichtige Punkt, der diesen Einfluss eines Einzelnen auf die lange Rechtsprechung stark einschränkt, ist die Amtszeit. Anders als am US-Supreme Court, am amerikanischen Verfassungsgericht, wo alle Richterinnen und Richter auf Lebenszeit ernannt werden, werden sie bei uns auf maximal zwölf Jahre ernannt – was jeden Einfluss automatisch über die Zeit minimiert.
Doch selbst in der Union gibt es unterschiedliche Meinungen. Kanzler Friedrich Merz sagte, er könne die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf mit seinem Gewissen vereinbaren. Focus Online hält es dennoch für möglich, dass jeder vierte Unionsabgeordnete dagegen stimmen könnte.
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