„Dieses Motiv steht auf tiefster Stufe und ist besonders verachtenswert“, sagt der Staatsanwalt
Am Donnerstagvormittag sitzt ein Rechtsmediziner in einem Verhandlungssaal des Landgerichts Berlin. Er spricht von „mindestens 85 scharfen Gewalteinwirkungen“ und beginnt zu zählen. „In 36 Fällen auf den Kopf, fünf Mal auf den Hals und Nacken, sechs Mal auf den oberen Rücken“, sagt er. „Elf Mal auf den linken Arm, drei Mal auf das rechte Bein, zwölf Mal auf das linke Bein.“ Er spricht von „stumpfen Gewalteinwirkungen im Bereich des Gesichts“, von einem „Durchstechen des Schulterblatts“. „Man braucht schon Kraft, um das Schulterblatt zu durchstechen“, sagt er.
Auf der rechten Seite des Saals sitzt der Angeklagte und hört aufmerksam zu. Er hat einen Knopf im Ohr, an den Seiten rasierte Haare und trägt ein schwarzes Oberteil. Vor ihm sitzt eine Dolmetscherin, die leise in ein Mikrofon spricht und ins Vietnamesische übersetzt.
Dem 29-jährigen Viet T., geboren 1996 in Vietnams Hauptstadt Hanoi, wird vorgeworfen, seine frühere Partnerin am 25. Januar dieses Jahres in einem Plattenbau an der Marzahner Chaussee in Berlin-Marzahn getötet zu haben. Die Anklage lautet: Mord aus niedrigen Beweggründen. Das Opfer, die 27-jährige Kosmetikerin Duyen B., hatte sich im November 2024 von ihrem Partner getrennt, mit dem sie ein vier Jahre altes gemeinsames Kind hatte.
„Er wartete mit einem Messer bewaffnet im Hausflur, bis sie ihre Wohnung verließ“, sagt der Staatsanwalt Frank Pohle am Morgen während der Anklageverlesung. „Er hatte den Entschluss gefasst, sie aufgrund einer tief empfundenen Kränkung über die Trennung und eines übersteigerten Besitzdenkens zu töten. Er wollte ihre freie Entscheidung nicht akzeptieren und hat ihr im Fahrstuhl mit unbedingtem Vernichtungswillen 85 Stiche in den Körper versetzt.“
Dann habe er die tödlich Verletzte im Fahrstuhl zurückgelassen. „Das Leben konnte trotz Reanimation am offenen Herzen nicht mehr gerettet werden“, sagt der Staatsanwalt. „Sie starb aufgrund des massiven Blutverlusts noch am Tatort.“ Der Rechtsmediziner spricht nach der Anklageverlesung von einem „sehr dynamischen Geschehen“. An den Verletzungen an den Unterarmen und Handinnenflächen sei erkennbar, dass das Opfer versucht habe, „die Gewalteinwirkungen abzuwehren“.
Hunderte Frauen werden jährlich getötet
Obwohl Duyen B. Ende Januar starb, war sie im Jahr 2025 in Deutschland bereits mindestens die sechste Frau, die von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wurde. Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten. 360 Frauen wurden dabei getötet – fast jeden Tag eine Frau.
Der Staatsanwalt spricht in einer Verhandlungspause am Donnerstag vor dem Saal von einem „klassischen Femizid“. „Die Tatmotivation war die Bestrafung dafür, dass sie die Beziehung beendet hat“, sagt er vor Journalisten. „Dieses Motiv steht auf tiefster Stufe und ist besonders verachtenswert.“ Er berichtet von ausgewerteten Chatnachrichten, aus denen eine Belästigung im Vorfeld der Tat ersichtlich sei, „in Richtung Stalking“.
Aus den Nachrichten gehe hervor, dass der Angeklagte die Beendigung der Beziehung nicht akzeptiert habe und „übermäßig gekränkt“ gewesen sei. Es sei um eine übersteigerte Eifersucht gegangen, nicht um die Hinwendung zu einem bestimmten Lebensstil oder ein sogenanntes Ehrmotiv.
„Mit äußerster Brutalität und Grausamkeit verübter Femizid“
Der Vater der getöteten Frau nimmt als Nebenkläger im Verfahren teil, er möchte sich erst nach Abschluss des Prozesses äußern. Sein Rechtsanwalt Friedrich Humke sagt WELT: „Es war ein mit äußerster Brutalität und Grausamkeit verübter Femizid.“ Während der Beziehung habe es Streitigkeiten um Geld gegeben – und auch Gewalt gegenüber der Frau. Strafanzeige habe die Geschädigte nicht erstattet.
Der Angeklagte Viet T. ist gelernter Koch und soll sich mit einem Bubble-Tea-Laden selbstständig gemacht haben. Duyen B. arbeitete in einem Nagelstudio. „Sie war eine freundliche und sehr fleißige Frau“, sagt Humke. „Sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Familie und während der Beziehung auch ein sehr gutes Verhältnis zur Familie des Angeklagten.“ B. sei gern gereist. „Sie war ein ganz normaler Mensch“, sagt er.
Als Zeuge wird an einem späteren Verhandlungstag unter anderem ein Mann aussagen, der ein guter Freund oder der neue Partner von Duyen B. war. Er hatte mit ihr telefoniert, als sie ihre Wohnung verließ, und soll den Beginn der Auseinandersetzung mitbekommen haben – bis sich diese in den Aufzug verlagerte und die Telefonverbindung unterbrach. Zudem sind Nachbarn geladen, die vor dem Einsatz des Messers einen Streit mitbekommen haben sollen. Diese sollen gefragt haben, ob sie die Polizei rufen sollen, was verneint worden sei. Der Angeklagte will sich an einem späteren Prozesstermin zu den Vorwürfen einlassen.
Bislang sind sechs weitere Verhandlungstermine geplant. Ein Urteil könnte bereits Ende Juli fallen. Sollte der Angeklagte wegen Mordes verurteilt werden, sieht das Gesetz zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe vor. Eine lebenslange Freiheitsstrafe ist in Deutschland ein Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit, mindestens aber für 15 Jahre. Frühestens dann kann die restliche Strafe auf Bewährung ausgesetzt werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind und das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit dem nicht entgegensteht. Sollte eine „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt werden, kommt eine Strafrest-Aussetzung nach 15 Jahren noch nicht in Betracht.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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