Misstrauensvotum gegen von der Leyen – wie gefährlich kann ihr das werden?
Droht von der Leyen womöglich das Aus? Damit ist aus heutiger Sicht nicht zu rechnen. Die Chancen für eine Abwahl der Kommission sind gering, denn es gibt zwei hohe Hürden. Zunächst wären mindestens 360 Stimmen, also die Zustimmung von mehr als der Hälfte der 719 Abgeordneten, nötig. Hinzu kommt, dass auch noch zwei Drittel der abgegebenen Stimmen dem Antrag zustimmen müssen – bei Anwesenheit aller Abgeordneten bei der Abstimmung entspräche das 480 Stimmen. Trotzdem bleibt ein Rest an Unsicherheit.
Was ist nur los in Brüssel? Der Aufruhr im EU-Parlament wurde vor ein paar Wochen von Professor Gheorge Piperea aus Rumänien initiiert. Er benötigte lediglich 72 Unterstützer, also zehn Prozent aller Abgeordneten, um einen Misstrauensantrag einbringen zu können. Nach einigem Hin und Her ist ihm das in den vergangenen Tagen gelungen, offenbar auch, weil zuletzt noch einige Abgeordnete der AfD im EU-Parlament mitunterzeichnet haben. Der 55-jährige Piperea ist seit 2024 Abgeordneter im EU-Parlament und entstammt der Partei „Bündnis für die Union der Rumänen“. Dieses Bündnis gehört innerhalb des Parlaments zur rechtspopulistischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Mit 80 Sitzen handelt es sich um die viertstärkste Gruppe im Abgeordnetenhaus. Piperea ist Vizechef der EKR-Fraktion.
Parlamentschefin Metsola hatte am Mittwochnachmittag mit den Fraktionsvorsitzenden aller im Parlament vertretenen Parteien über den Antrag von Piperea & Co. beraten. Angesichts der ausreichenden Stimmen für einen Misstrauensantrag blieb ihnen keine Wahl: Sie mussten laut Geschäftsordnung für die kommende Woche eine Aussprache und eine Abstimmung ansetzen.
Von der Leyen soll sich „unrechtmäßig“ in Wahlen eingemischt haben
Zwei Seiten umfasst der Antrag, der WELT vorliegt. Die Vorwürfe der Antragssteller wiegen dabei durchaus schwer. Konkret geht es um Fehlverhalten der Kommission während der Pandemie, insbesondere bei der Bestellung von ungenutzten Impfdosen im Wert von rund vier Milliarden Euro. Zudem verweigere die Kommission bis heute Informationen zu in der Corona-Krise ausgetauschten Textnachrichten zwischen von der Leyen und dem Chef des US-Pharma-Konzerns Pfizer. In diesem Fall urteilte jüngst auch das Gericht der EU, dass dies bislang ohne ausreichende rechtliche Begründung geschehe.
Außerdem werfen die Antragssteller der Kommission durch die verzerrte Anwendung von Digital-Gesetzen die „unrechtmäßige Einmischung bei Wahlen in den Mitgliedstaaten, wie in Rumänien und Deutschland“ vor. Auch das EU-Finanzierungsprogramm für mehr Verteidigungsausgaben sei nicht rechtmäßig.
Für die deutsche CDU-Politikerin von der Leyen, die der europäischen Parteienfamilie EVP angehört, ist der Vorstoß aus dem rechten Lager trotz der geringen Aussicht auf Erfolg eine Belastungsprobe. Grund ist, dass die 66-Jährige mit manchen politischen Initiativen zuletzt auch bei Abgeordneten, die ihr eigentlich wohlgesonnen sind, für Unmut sorgte, indem sie etwa ein milliardenschweres Kreditprogramm für Verteidigungsinvestitionen als Notfallmaßnahme ohne Parlamentsbeteiligung plante. Letzterer Punkt wird auch in dem Misstrauensantrag kritisiert.
Hinzu kommt, dass vor allem Grüne und Sozialdemokraten unzufrieden sind mit ihrer Situation: Die Grünen fühlen sich bei Entscheidungsprozessen in Brüssel mittlerweile häufig übergangen und vertreten die Ansicht, von der Leyen baue die Klimagesetzgebung immer mehr zurück. Die Sozialdemokraten suchen ebenfalls noch ihre Rolle, sie kritisieren eine Dominanz der europäischen Christdemokraten (EVP) und fürchten gleichzeitig, dass beim geplanten Bürokratieabbau der Kommissionsbehörde die Arbeitnehmerrechte unter die Räder kommen könnten.
Grüne und Sozialdemokraten beschweren sich seit Monaten hinter vorgehaltener Hand darüber, dass sie von der Leyen zwar vor einem Jahr zur Präsidentin der EU-Kommission mitgewählt hätten, aber dafür zu wenig belohnt würden. Von der Leyen würde stattdessen vor allem EVP-Politik machen. Die EU-Kommission weist die Vorwürfe zurück.
Stimmen Grüne und Sozialdemokraten mit den Rechtspopulisten?
Aber hinter Kulissen gibt es trotzdem seit Mittwochabend Unruhe. Einige hochrangige Christdemokraten befürchten offenbar, dass vor allem Grüne und Sozialdemokraten den Misstrauensantrag zum Anlass nehmen könnten, offene Rechnungen mit von der Leyen zu begleichen und – zusammen mit einem Teil der Rechtspopulisten – gegen sie stimmen.
Am Mittwochabend gab es deswegen zahlreiche Telefonate. Die Chefs der deutschen Unionsabgeordneten im EU-Parlament, Daniel Caspary (CDU) und Angelika Niebler (CSU), schickten dann um 19:50 Uhr eine deutliche Warnung in Richtung der anderen bürgerlichen Parteien: „Wir gehen davon aus, dass sich angesichts der internationalen Lage und der großen Herausforderungen in der Europäischen Union der Spieltrieb auch bei den Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten in engen Grenzen hält.“
EVP-Chef Manfred Weber (CSU) bezeichnete den Misstrauensantrag der Rechtspopulisten unterdessen als ein parteitaktisches Spielchen, das auch nicht im Ansatz eine Mehrheit im Parlament finden werde. „Europa hat vor einem Jahr gewählt und Ursula von der Leyen führt die EU in turbulenten Zeiten mit einem starken Mandat“, sagte der CSU-Politiker. In Zeiten von wirtschaftlicher Unsicherheit und globalem Umbruch sei es vollkommen unverantwortlich, solche „Öffentlichkeitsstunts“ durchzuziehen. Die Antragsteller verfolgten das Ziel eines instabilen und schwachen Europas. In EU-Kreisen hieß es auch: „In dieser geopolitischen so einen Antrag zu stellen, dient nur einem: Putin.“
Auf der anderen Seite macht der Misstrauensantrag aber auch deutlich, dass der Block der drei verschiedenen Rechts-Fraktionen im EU-Parlament mit insgesamt 191 Abgeordneten tief gespalten ist. Die EKR distanzierte sich sogar von dem Antrag ihres Vizechefs: „Das ist keine Initiative unserer Gruppe“, teilte ein Sprecher der Parteiengruppe mit. Wichtige Teile der EKR unterstützen den Antrag ihres Fraktionskollegen Piperea nicht. Dazu gehörten die „Brüder Italiens“ von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, aber auch die „Demokratische Bürgerpartei“ (ODS) von Tschechiens Ministerpräsidenten Petr Fiala und die Neu-Flämische Allianz (NVA) von Belgiens Regierungschef Bart De Wever. Der Rassemblement National (RN) der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen beteiligte sich ebenfalls nicht. Dafür stimmten aber viele PiS-Abgeordnete aus Polen, ebenso wie Politiker aus anderen Fraktionen wie etwa „Europa der Souveränen Nationen“ (ESN) – darunter zahlreiche AfD-Abgeordnete.
Insgesamt bringt der Misstrauensantrag Unruhe ins politische Brüssel, aber er bedeutet letztlich auch eine Schwächung der Rechtspopulisten in Europa, die sich im EU-Parlament immer mehr zu zerstreiten scheinen.
Misstrauensanträge gegen die Kommission sind äußerst selten. Zuletzt waren Rechtspopulisten im Jahr 2014 mit einem Misstrauensantrag gegen die damalige EU-Kommission um Jean-Claude Juncker gescheitert. Bei der Abstimmung damals votierten lediglich 101 Abgeordnete für den Vorstoß aus dem EU-kritischen Lager. 461 lehnten ihn ab, 88 enthielten sich.
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