Die neue deutsch-polnische Einigkeit in der Energiepolitik
Die große Bühne hat sich die Wirtschaftsministerin nicht gesucht. Katherina Reiche (CDU) steht auf dem kleinen Vorplatz der Warschauer Wertpapierbörse, zwischen einer Auffahrt der ehemaligen Zentrale der Vereinigten Arbeiterpartei und dem Rydz-Smigly-Park. Die Ministerin will ein Statement nach ihrem Antrittsbesuch in der polnischen Hauptstadt verlesen. Eine Konferenz mit ihren polnischen Kollegen ist nicht anberaumt; wer nicht um den Termin weiß, dürfte Reiche übersehen.
Dabei hat er das Potenzial, einen Neustart in den deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen einzuläuten. Reiche gilt unter polnischen Diplomaten, vor allem aber in Wirtschaftskreisen, als kühle Pragmatikerin. Als Energieexpertin und ehemalige Managerin des Energieunternehmens Westenergie wird sie von ihren polnischen Partnern geschätzt.
Polnische Entscheidungsträger hoffen, dass Reiche auf die Linie der Regierung von Premierminister Donald Tusk einschlägt. Die bekennt sich zwar zu den europäischen Klimazielen, setzt dabei jedoch auf unterschiedliche Energieträger; unter anderem forciert Polen den Einstieg in die Kernenergie. Zwei große Atomkraftwerke mit einer Leistung von neun Gigawatt werden gebaut, das erste soll 2033 ans Netz gehen.
Reiches Vorgänger Robert Habeck (Grüne) zwar hat den polnischen Atomeinstieg nie öffentlich infrage gestellt, allerdings wurde das Vorhaben in den Regierungsjahren der Ampel durchaus kritisiert, etwa aus den Bundesländern heraus. Landespolitiker gerade der östlichen Bundesländer forderten eine Umweltverträglichkeitsprüfung der geplanten Anlagen. Am liebsten wäre es ihnen gewesen, die Polen hätte ihre Projekte beerdigt.
Aus Berlin wurden die Landesverbände nicht zurechtgewiesen. In Polen löste das Empörung aus, Spitzenpolitiker wiesen solche Forderungen brüsk als „Einmischung“ zurück – zumal Habeck als einer der Verantwortlichen der aus polnischer Sicht gescheiterten deutschen Energiepolitik gilt.
In Warschau betrachten viele die sogenannte Energiewende als schweren wirtschaftlichen wie politischen Fehler. Der zeitgleiche Ausstieg aus der Kohle- und Atomverstromung und der Fokus auf den Import russischen Gases: All das hat in den Augen der Polen Europas Wettbewerbsfähigkeit geschwächt und Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 wenigstens begünstigt. Auf Belehrungen deutscher Politiker reagieren Angehörige der polnischen Regierung deswegen empfindlich.
Europas Wachstumsmotor
Reiche weiß darum. Sie ist unter anderen Vorzeichen nach Warschau gereist. Den polnischen Atomeinstieg kritisiert sie nicht. Auch erwartet niemand mehr, dass Deutschland sich gegen den Ausbau der Kernenergie in den europäischen Nachbarländern stemmt. „Die neue Bundesregierung, gerade auch Reiche, tritt rhetorisch anders beim Thema Atomkraft auf“, sagt im Gespräch mit WELT Jakub Wiech, Chefredakteur des Energieportals Energetyka24, polnischer Energieexperte und Autor eines Buches über die deutsche Energiewende.
„Auch wenn gesagt wird, dass Deutschland seine Meiler nicht mehr ans Netz nehmen wird, wird so Vertrauen bei den europäischen Partnern gewonnen, gerade auch bei Polen, dass die Bundesregierung sich nicht gegen den Atomkraftausbau stemmt, ihn vielleicht sogar begrüßt“, erklärt Wiech.
„Ich bin gern nach Warschau gekommen“, sagt Reiche vor dem Sitz der Börse. Sie spricht davon, dass Deutsche und Polen in diesem Jahr das 35. Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages feiern und dass das Verhältnis beider Länder „mehr als Handel“ sei.
Von einer „tiefen Verwobenheit“ sei es geprägt. Der Handel indes nimmt eine herausgehobene Stellung ein: Deutschland ist Polens wichtigster Handelspartner, Polen steht für Deutschland auf Platz fünf. Seit 2024 exportiert Deutschland sogar Waren mit einem höheren Wert nach Polen als nach China.
Polen wird immer wichtiger. Die Wirtschaft des Landes ist dynamisch, seit mehr als dreißig Jahren wächst sie beinahe unentwegt mit Raten von mehr als drei Prozent. Das Land ist heute Europas Wachstumsmotor und nicht mehr nur eine Art Werkbank der deutschen Industrie.
Warschau investiert zunehmend in Deutschland und an der Warschauer Börse werden immer mehr polnische Technologieunternehmen notiert. Insoweit steht der Ort, an dem Reiche ihr Statement abgibt, symbolisch für eine sich ändernde Dynamik in den deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen.
Annäherung der neuen Bundesregierung an Polen
Über die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung habe Reiche mit ihren Kollegen gesprochen, bestätigt die Ministerin. Über die Energiewende, neue Sanktionen gegen Russland, die Wasserstoffwirtschaft und auch mögliche Investitionen im Rüstungssektor. „Deutschland und Polen haben mit denselben Herausforderungen zu kämpfen“, sagt Reiche.
Es ist eine Vielzahl an Themen. Auf Reiches Plan standen denn auch Treffen mit gleich drei polnischen Ministern, dem Minister für Staatsvermögen, Jakub Jaworowski, Industrieministerin Marzena Czarnecka und Wirtschafts- und Technologieminister Krzystof Paszyk.
Ob Reiche ein persönliches Verhältnis zu ihren Kollegen aufbauen kann, ist allerdings ungewiss. Nach den polnischen Präsidentschaftswahlen am 1. Juni und dem Sieg des Kandidaten der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Karol Nawrocki, ist das Regierungslager geschwächt. Regierungschef Tusk hat eine Regierungsumbildung angekündigt – und ausgerechnet Reiches Gesprächspartner gelten als potenzielle Verlierer. Sie könnten aus der Regierung ausscheiden.
Experte Wiech ist dennoch zuversichtlich. Er sieht „ganz grundsätzlich eine Annäherung der neuen Bundesregierung an die energie- und wirtschaftspolitischen Ziele Polens“. Es gehe darum, erklärt Wiech, Klimaschutz eben nicht auf Kosten von Wettbewerbsfähigkeit zu gestalten. „Dabei sind Reiche und andere Minister allein rhetorisch schon viel näher an Warschau, als die Vorgängerregierung.“
Hoffnung hat Wiech, dass Deutschland und Polen energie- und wirtschaftspolitisch in der EU wieder an einem Strang ziehen. „Da ist zum Beispiel die EU-ETS2-Regelung, also der europäische Emissionshandel, wie er ab 2027 gelten soll. Polen hat daran Kritikpunkte, die wohl die neue Bundesregierung teilt“, sagt Wiech.
In Warschau sind die politisch Verantwortlichen davon überzeugt, dass Akzeptanz für Klimapolitik und ambitionierte Verteidigungs- und Rüstungsziele ohne Wachstum nicht zu haben seien. Dass die neue Bundesregierung das auch so sieht, erwartet die polnische Seite.
Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.
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