Unter Palmen marschiert die Hisbollah in Tyre auf, einer südlibanesischen Stadt am Meer. Auf der Promenade versammeln sich rund 500 Anhänger der pro-iranischen Miliz vor einer Bühne, auf der zur Vernichtung Israels aufgerufen wird. „Wenn es einen Krieg zwischen Israel und dem Teufel gäbe, würden wir uns auf die Seite des Teufels stellen“, ruft ein Redner.

Das Publikum ist hierarchisch aufgereiht: Vorn stehen die Männer und geistlichen Anführer, hinten Frauen und Mädchen, am Rand die uniformierte Hisbollah-Jugend. Sie halten Bilder von Staatsoberhaupt Ali Chamenei hoch, der sich im Zwölf-Tage-Krieg gegen Israel in Bunkern verschanzt — und danach zum Sieger erklärt hat.

Der Aufmarsch der Hisbollah, die im Libanon als politische Partei und als bewaffnete Miliz großen Einfluss hat, gleicht einem Treueschwur in Richtung Teheran.

Über Jahrzehnte hat der Iran sie mit vielen Milliarden Euro, mit Waffenlieferungen und militärischem Know-how zu seiner potentesten Miliz aufgebaut, stationiert an der Grenze zu Israel. Doch als das Regime im Krieg gegen den Erzfeind nun mit dem Rücken zur Wand stand, sprang die Hisbollah nicht mit Waffengewalt beiseite.

Das liegt vor allem am Zustand der schiitischen Miliz selbst. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober brach der Krieg auch im Südlibanon aus. Die Hisbollah feuerte über Monate Raketen auf Israel, während die israelischen Streitkräfte (IDF) massive Luftangriffe auf Stellungen der Miliz durchführten. Im Herbst 2024 rückte die israelische Armee auch am Boden tief in den Südlibanon vor, bevor sie sich Anfang dieses Jahres zurückzog.

Bis zu 4000 Kämpfer hat die Hisbollah in den vergangenen eineinhalb Jahren verloren, heißt es in europäischen Sicherheitskreisen. Ganze Orte im Südlibanon wurden regelrecht plattgemacht. Neben Anführer Hassan Nasrallah tötete Israel zahlreiche Kommandeure. Ununterbrochen nehmen die IDF Stellungen ins Visier.

Am Freitag attackierte die israelische Armee ein mutmaßliches Waffendepot nahe der Stadt Nabatieh mit bunkerbrechenden Bomben. Einige Wochen zuvor hatte sie eine mutmaßliche Stätte zur Drohnenproduktion im Beiruter Vorort Dahieh, einer Hisbollah-Hochburg, angegriffen.

Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, die Regeln der im Frühjahr vereinbarten Waffenruhe zu brechen. Dieses Abkommen sieht vor, dass der Südlibanon frei von nicht-staatlichen Kämpfern und Waffen wird. Gleichzeitig sollen sich israelische Soldaten vollständig zurückziehen und libanesische Truppen an der Grenze stationiert werden. Die israelische Armee hält weiterhin mehrere Stellungen auf libanesischem Gebiet.

Viele Menschen im Libanon hoffen, dass sie gerade den Anfang vom Ende der Miliz erleben. Nicht nur christliche Parteien wie die Lebanese Forces, sondern auch Kräfte innerhalb der Drusen und Sunniten fordern eine Entmachtung. Die libanesische Armee soll die Miliz nach Jahrzehnten endlich entwaffnen, der Staat das Gewaltmonopol an sich ziehen. Denn immer wieder hat die Hisbollah das ganze Land mit in den Krieg gerissen — allein die Kämpfe seit 2023 haben Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe angerichtet.

Der Autor und Analyst Nicholas Blanford hat sich über Jahre intensiv mit der Hisbollah beschäftigt. Er bremst im Gespräch mit WELT die inner-libanesischen Erwartungen: „Ich sehe weder das Ende der Hisbollah als pro-iranische Miliz noch eine strategische Neuausrichtung in dieser Phase.“

Laut Blanford würde eine Abkehr von den Geistlichen in Teheran die Existenz der Miliz gefährden: „In dem Moment, in dem sich die Hisbollah tatsächlich von dieser ideologischen Beziehung löst, werden auch die iranischen Geldflüsse versiegen. Und das würde den allmählichen Zerfall der Organisation einleiten.“

Gleichzeitig sei die Hisbollah verpflichtet, die Interessen der libanesischen Schiiten zu vertreten. Dieser Widerspruch bestehe seit Jahren. Insbesondere nach den hohen Verlusten der Miliz seit Oktober 2023 sei die Bereitschaft im Libanon gering, schon wieder in einen zerstörerischen Krieg zu ziehen. „Wenn die Unterstützung der schiitischen Basis wegbricht, ist die Geschichte der Hisbollah vorbei“, sagt Blanford.

Aus diplomatischen Kreisen in Beirut heißt es, gegen einen iranischen Befehl zum Kampf hätte sich der neue Hisbollah-Chef Naim Kassim nicht wehren können. Aber der Iran habe — auch in Anbetracht ihrer Verfassung — auf die Hilfe der Miliz vorerst verzichtet.

„Aus iranischer Sicht war klar: Wir können die israelischen Angriffe verkraften, ohne die Hisbollah einzubeziehen“, sagt Blanford. So könnte Teheran die Miliz weiter aufbauen für ein Szenario, in dem es um die Existenz des Regimes gehe.

Die militärischen Fähigkeiten der Hisbollah sind nach Einschätzung Blanfords durch die israelischen Angriffe zwar eingeschränkt. Dennoch besitze die Miliz für den Iran noch ein gewisses Abschreckungspotential: „Die Hisbollah ist weiterhin in der Lage, Israel ernsthaft zu schaden.“

Bislang unzerstörte Waffen- und Munitionsdepots

Aus diplomatischen Kreisen heißt es, dass die Hisbollah noch immer über Waffen- und Munitionsdepots verfüge, die Israel bislang nicht zerstört habe. Die Lieferung neuer Waffen sei eingeschränkt, da viele Wege über die syrische Grenze blockiert seien.

Beim Aufmarsch in Tyre zeigt sich abseits aller Parolen, welche Spuren der Krieg innerhalb der Hisbollah hinterlassen hat. Viele der Frauen, in Schwarz gehüllt, halten Plakate ihrer Söhne in die Höhe, die im Kampf gefallen sind. Als „Märtyrer“ gedenkt ihnen die Miliz.

Vor der WELT-Kamera will an diesem Abend kein Mann sprechen – stattdessen die Jugend. Die elf Jahre alte Malak Fadi sagt: „Ich bin hier, um dem Iran beizustehen und den Iranern zu sagen, dass wir an eurer Seite sind, egal was passiert.“ Der 17-jährige Abbas arbeitet in einem Café im Südlibanon. Er sagt, dass er „den Iran und alle Araber“ unterstütze. Er hoffe, dass die Hisbollah dabei helfe, Israel zu „zerstören“. Ihr aller Traum sei es, „Jerusalem zu befreien und dort zu beten“.

Ibrahim Naber ist seit 2022 WELT-Chefreporter. Er berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.

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