Als Björn Bühler vor einigen Tagen seinen Briefkasten öffnete, traute er seinen Augen nicht. Die Post, die ihm die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg weitergeleitet hatte, stammt von dem Mann, der am 20. Dezember vergangenen Jahres bei seiner Amokfahrt durch den Magdeburger Weihnachtsmarkt sechs Menschen getötet und 327 verletzt hatte.

Bühler war als Ärztlicher Direktor des Maßregelvollzugs Bernburg der Chef von Taleb al-Abdulmohsen, der dort von März 2020 bis zum Anschlag als Psychiater gearbeitet hatte. Der an Bühler gerichtete Brief besteht aus insgesamt 36 DIN-A4-Seiten mit zwei Anschreiben und liegt WELT AM SONNTAG exklusiv vor. Der 50-jährige Arzt aus Saudi-Arabien hat ihn handschriftlich im Gefängnis verfasst, in fast perfektem Deutsch, mit seiner Unterschrift und dem Datum „Leipzig 2.6.2025“. Al-Abdulmohsen war in die dortige Justizvollzugsanstalt verlegt worden, weil er sich laut Ermittlern mehrfach geweigert habe zu essen und dadurch geschwächt sei. Zum Leipziger Gefängnis gehört ein Haftkrankenhaus.

Der Attentäter bezieht sich in dem Brief auf die Akte „111 Js 9/24“ der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, in die er Ende Mai Einsicht erhalten habe. Zum Motiv für seine Tat äußert er sich nur indirekt. Er behauptet, dass „die deutschen Behörden die saudischen ex-muslimischen Asylsuchendinnen (sic!) umbringen wollten“. An anderer Stelle schreibt er von „Angriffen deutscher Behörden gegen mich“ und von einem „Racheplan“. Damit erfährt die Öffentlichkeit erstmals durch den Beschuldigten selbst, was ihn zu seiner Tat angetrieben haben könnte.

Al-Abdulmohsen wirft auch in einem von ihm auf Englisch verfassten Artikel, den er dieser Redaktion geschickt hat, deutschen Beamten Misshandlungen von saudischen Flüchtlingen vor. Zudem würden Journalisten von Fake News besessen sein, „die als Ablenkung von den eigentlichen Problemen erfunden wurden“.  Diese hätten zur Tragödie vom 20. Dezember geführt. Was er damit meint, ist dem wirren Schreiben nicht zu entnehmen.

In dem Brief an Bühler nimmt er vor allem Stellung zu Vorwürfen seiner ehemaligen Kollegen im Maßregelvollzug, die in den Sonderbänden der Akte „SB. Arbeitgeber Salus-Klinik“ protokolliert sind. Der Mediziner bestreitet in dem Brief, Patienten falsch behandelt zu haben und bittet darum, seine Verteidigungsschrift in die Akte aufzunehmen.

Al-Abdulmohsen wehrt sich etwa gegen die Kritik, er habe sein Fachwissen aus dem Internet bezogen. Durch den Spott seiner früheren Mitarbeiter fühlt er sich offenbar gekränkt. „Ich wusste erst am 27.5.2025 über den Titel ‚Dr. Google‘, also erst nach der Akteneinsicht“, schreibt der Psychiater. Er rechtfertigt sich damit, im Netz nach Nebenwirkungen von Medikamenten gesucht zu haben, die sich nicht auf den Beipackzetteln befunden hätten. Ferner weist er den Vorwurf zurück, für den Tod eines Insassen verantwortlich zu sein. 

Seine Ex-Kollegen hatten in Vernehmungen erklärt, er habe dem Mann nur heißen Tee verordnet, obwohl der über Schmerzen in der Brust geklagt habe. „Der Patient ist um 2 Uhr gestorben. Ich war gar nicht involviert“, rechtfertigt sich al-Abduhlmosen auf Seite 25 des Briefes. Heißer Tee sei von niemandem verordnet worden. Es habe wegen des Todes auch keine Ermittlungen gegen ihn gegeben. Bei seiner Visite am Tag zuvor sei es dem Mann noch gutgegangen.

Seine ehemaligen Mitarbeiter werfen ihm auch vor, er habe gegenüber Patienten erklärt, Alkohol wäre gut. Der Saudi schreibt dazu, er habe sich bloß an der Empfehlung einer auf Herzgesundheit spezialisierten US-Organisation orientiert. Ihr Motto laute: „Wenn du Alkohol trinkst, dann trinke moderat. Wenn du rauchst, höre jetzt auf.“ 

Bitte um Verzeihung

Besonders wichtig ist dem Todesfahrer von Magdeburg, bei seinem ehemaligen Chef Björn Bühler um Entschuldigung zu bitten. Der damalige Ärztliche Direktor war dafür kritisiert worden, die Gefährlichkeit des späteren Attentäters nicht erkannt zu haben. In einem Schriftverkehr der Belegschaft heißt es, dass Bühler seine Fachaufsicht, das Sozialministerium in Sachsen-Anhalt, nicht über psychische Auffälligkeiten des späteren Attentäters informiert habe. So soll al-Abdulmohsen gegenüber einem Kollegen im Maßregelvollzug davon gesprochen haben, dass er sich in einem Krieg befinde. In seinem Brief an Bühler bittet er ihn um Verzeihung dafür, dass dieser seinetwegen habe leiden müssen.

Bühler war von seinem Arbeitgeber, der Salus gGmbH, zunächst freigestellt worden. Prüfungen hätten aber ergeben, dass „dem Ärztlichen Direktor im Zusammenhang mit der Beschäftigung des Attentäters keine Vorwürfe gemacht werden können“, hieß es in einer Salus-Mitteilung. Die Freistellung war deshalb aber bereits im März aufgehoben worden. Dennoch haben sich die Wege von Bühler und Salus getrennt. Der Ärztliche Direktor soll kein Vertrauen mehr zu seinem Arbeitgeber gehabt haben. 

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