Vom Hauptdarsteller zum Statisten – Beim EU-Gipfel geht es für Selenskyj um alles
Die Ukraine hat schlimme Tage hinter sich. Russland setzt derzeit mehr Drohnen, Gleitbomben und Marschflugkörper gegen die Ukraine ein als jemals zuvor seit Kriegsbeginn im Februar 2022. Anfang dieser Woche wurden allein in einer Nacht bei Angriffen 26 Zivilisten getötet und 200 Personen verletzt. Vor diesem Hintergrund hätte man erwarten können, das Selenskyj am Mittwoch beim Nato-Gipfel in Den Haag – genauso wie vor einem Jahr in London – ausreichend Gelegenheit hat, seine Sorgen und Anliegen zu erläutern.
Aber das war nicht der Fall. US-Präsident Donald Trump hat Selenskyj beim Nato-Gipfel in die Ecke gedrängt. Trumps Ziel ist: Bloß nicht Kreml-Herrscher Wladimir Putin unnötig reizen, um eine politische und wirtschaftliche Annäherung zwischen Moskau und Washington nicht zu gefährden.
Und so kam die Ukraine in der Abschlusserklärung des Gipfels mit nur einer knappen Erwähnung in einem vagen Satz vor: „Die Verbündeten bekräftigen ihre dauerhaften einzelstaatlichen Zusagen zur Unterstützung der Ukraine, deren Sicherheit zu unserer Sicherheit beiträgt“. Neue konkrete Finanzzusagen an Kiew gab es aber nicht, auch der Nato-Ukraine-Rat tagte nicht auf Ebene der Staats- und Regierungschefs und neue Versprechen für mehr US-Unterstützung, etwa bei Sanktionen oder Waffenlieferungen, gab es ebenfalls nicht. Trump ließ auch nicht durchblicken, dass er Selenskyjs Wunsch erfüllen und amerikanische Waffen an Kiew verkaufen wird.
Immerhin gewährte Trump Selenskyj ein 50-minütiges bilaterales Treffen. „Es war sehr nett, hätte nicht netter sein können“, sagt Trump bei seiner Pressekonferenz zum Abschluss des Nato-Gipfels. „Wir haben darüber gesprochen, wie wir einen Waffenstillstand und echten Frieden erreichen können“, erklärte Selenskyj. „Wir haben darüber gesprochen, wie wir unser Volk schützen können“, ergänzte er.
Trump widersprach umgehend: Nach seinen Angaben hat der US-Präsident bei seinem Gespräch mit dem Selenskyj nicht konkret über einen Waffenstillstand mit Russland gesprochen.
Der Nato-Gipfel war aus Sicht Selenskyjs eine Enttäuschung. Dabei hatten die Europäer im Vorfeld alles getan, um die Ukraine in Den Haag ins Spiel zu bringen. Aber Washington spielte nicht mit. Immerhin konnten europäische Spitzenpolitiker erreichen, dass die künftigen Ausgaben zur militärischen Unterstützung für die Ukraine weitgehend auf die Verteidigungsausgaben angerechnet werden können. Dies könnte ein zusätzlicher Anreiz ein, die Ukraine zu unterstützen.
Europa ist der einzige Verbündete, den Selenskyj noch hat
Am heutigen Donnerstag nimmt Selenskyj am EU-Gipfel in Brüssel teil. Hier ist alles anders: Die EU-Staats- und Regierungschefs empfangen ihn mit offenen Armen, sie drücken ihn und lachen bei lockeren Plaudereien gemeinsam mit dem Staatschef der Ukraine, dessen Falten immer furchiger und Augen immer trauriger werden.
In Brüssel ist Selenskyj willkommen. Die Europäer sind die einzigen Verbündeten, die er noch hat. Sie haben der Ukraine in diesem Jahr bereits 35 Milliarden Euro an neuen Hilfen zugesagt. Vor Trumps erneutem Amtsantritt im Januar waren dagegen die USA noch der wichtigste Unterstützer der Ukraine bei der Abwehr des russischen Angriffskrieges.
Unter Trump haben die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung allerdings deutlich zurückgefahren. Neue Zusagen für Geld und Waffen gibt es nicht. Die aktuellen Waffenlieferungen wurden noch von Trumps Vorgänger Joe Biden genehmigt, sie laufen im Sommer aus.
Und was kommt dann? Trump hat bereits angedeutet: Das war’s. Dabei benötigt die Ukraine dringend neue Waffen aus den USA, beispielsweise das Raketenabwehrsystem Patriot, den Mehrfachraketenwerfer Himars oder die ballistische Kurzstreckenrakete Atacms.
Vor dem Hintergrund einer zunehmend prekären Lage für die Ukraine an der Front ist der EU-Gipfel an diesem Donnerstag möglicherweise die letzte Chance für Selenskyj, die 27 politischen Führer der Europäischen Union davon zu überzeugen, für die Amerikaner einzuspringen und viel mehr zu tun als bisher, um die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland zumindest über Wasser zu halten.
Im Klartext: Bei diesem EU-Gipfel geht es für Selenskyj um alles, es ist ein Schicksalsgipfel für die Ukraine. Ein hoher EU-Diplomat, der nicht genannt werden wollte, drückte es so aus: „Uns ist klar, dass Europa künftig mehr leisten muss, weil die Amerikaner sich schrittweise zurückziehen.“
Das ist Diplomatenjargon, das klingt rational und nüchtern, aber die Aussage hätte gewaltige Konsequenzen – wenn sie ernst gemeint ist. Konkret: Anders als bisher, müssten die Europäer die im Kampf zerstörten westlichen Waffen, wie Leopard-2-Panzer, an der Frontlinie zügig ersetzen. Sie müssten Zusagen für schnelle Lieferungen machen, anstatt immer neue Waffen für den Sankt-Nimmerleins-Tag anzukündigen. Es reichte dann auch nicht mehr, wie Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) stolz zu verkünden, dass einzelne EU-Länder künftig Milliarden in den Ausbau der ukrainischen Rüstungsindustrie stecken wollen. Die Europäer müssten jetzt klotzen, anstatt Luftschlösser für die Zukunft zu entwerfen.
Selenskyj wird Europa bei diesem EU-Gipfel mit großer Wahrscheinlichkeit eine Standpauke halten. Er wird – mit dem Rücken zur Wand – in Brüssel eindringlich um mehr Geld und Waffen betteln und seinen Zuhörern im Europäischen Rat deutlich zu machen versuchen, wie dramatisch die Lage für sein Land im Juni 2025 mittlerweile geworden ist. Dabei ist Merz & Co längst klar, dass die EU den Ausfall der US-Hilfen nicht annähernd kompensieren kann.
Es ist den „Chefs“ auch klar, dass sie nun schnell handeln sollten. Sie müssen jetzt die Weichen stellen, denn die Zeit drängt, weil Russland in diesem Krieg immer stärker wird. Und so wird dieses EU-Spitzentreffen in Brüssel auch zu einem Gipfel der Entscheidung für die Ukraine: Warme Worte, Umarmungen und neue Versprechungen reichen nicht mehr, sie würden vermutlich nur das Ende der Ukraine besiegeln.
Sollten sich die Europäer aber in dieser Woche ernsthaft dazu durchringen, Selenskyjs Flehen zu erhören, dann wird die Rettung der Ukraine sehr teuer werden und die bisherigen Leistungen um ein Vielfaches übertreffen müssen. Und dann gingen die Europäer auch ins Risiko, es könnte dabei möglicherweise vermehrt zu russischen Destabilisierungsversuchen in Europa kommen. Erst am Mittwoch hatte der Putin-Vertraute und Vizechef des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedjew, die Europäische Union als „direkte Bedrohung“ und als „Feind“ für sein Land bezeichnet.
Der Ukraine fehlen Soldaten und Waffen
Dabei entwickeln sich die Ereignisse im Ukraine-Krieg aus Sicht des Kremls immer mehr zum Vorteil Russlands. So verlagert sich die öffentliche Aufmerksamkeit zunehmend von der Ukraine in Richtung Nahost. Außerdem leiten die Amerikaner neuerdings der Ukraine zugesagte Waffen teilweise in Richtung Nahost um. Nach Angaben des Militärstrategen Oberst Markus Reisner vom Verteidigungsministerium in Österreich wollen die Amerikaner jetzt beispielsweise 20.000 Vampire-Raketen, die zur Drohnenabwehr eingesetzt werden können, zum Schutz der eigenen Streitkräfte nach Nahost schicken.
Der Ukraine fehlen Soldaten und Waffen. Nach Angaben des ‚Wall Street Journal‘ hat Russland im Mai so viele Gebiete gewonnen wie niemals zuvor seit Kriegsbeginn vor mehr als drei Jahren: Häufig nehmen die Russen derzeit pro Tag 15 bis 20 Kilometer ukrainisches Gebiet ein. Die russischen Streitkräfte rücken immer weiter vor Richtung Westen und sind teilweise schon in die provisorisch häufig nur mit Stacheldraht errichtete vierte Verteidigungslinie der Ukraine eingebrochen. Moskau versucht, neben den bisherigen zum größten Teil besetzten fünf Oblasten drei weitere Oblaste zu erobern: Sumy, Charkiw und Dnipropetrowsk.
Die russische Sommeroffensive hat Anfang Juni begonnen. Dabei stehen die ukrainischen Streitkräfte meistens unter Dauerbeschuss durch Marschflugkörper und mit Glasfaserdrähten gesteuerten Drohnen. Im vergangenen Monat warf Russland zudem rund 6000 teilweise tonnenschwere Gleitbomben ab. Zudem gelingt es Moskau zunehmend, die ukrainischen Soldaten von den Versorgungslinien abzuschneiden und sie an mehreren Stellen, wie bei Torezk im Donbass, einzukesseln.
Die russische Rüstungsindustrie läuft zudem auf Hochtouren. Ukraines Geheimdienst erklärte am vergangenen Wochenende, Moskau verfüge derzeit über 1950 strategische Raketen und könne pro Monat 195 weitere davon herstellen. Viele ukrainische Brigaden sind dagegen so ausgedünnt, dass sie kaum noch kämpfen können. Russland setzt auch immer mehr Glasfaser-gesteuerte Drohnen ein, die gegen ukrainische Störsender immun sind und ihre Ziele meistens präzise erreichen. Die Ukraine verfügt darüber nicht in einem großen Ausmaß. Nach russischen Angaben sind diese neuen Drohnen für 65 Prozent der Verluste der Ukraine verantwortlich.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
Stefan Beutelsbacher ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet über die Wirtschafts-, Handels- und Klimapolitik der EU.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke